Vollgasfußball

Mit hoher Intensität und reichlich Emotionen zu großen Erfolgen – so etwa habe ich die Zeit von Jürgen Klopp bei Borussia Dortmund erlebt. Dass ich dabei höchstens an der Oberfläche gekratzt habe, machte mir das Buch „Vollgasfußball. Die Fußballphilosophie des Jürgen Klopp.“ von Martin Rafelt deutlich.

Ich sah dem Buch mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits war der Fußball des BVB unter dem Trainer Klopp wirklich spektakulär. Andererseits ist Rafelt Stammkraft beim Taktikblog Spielverlagerung.de, und seine Texte dort gehen mir persönlich häufig zu sehr ins Detail. Daher erwartete ich für „Vollgasfußball“ durchaus zähe Lektüre.

Zu meiner großen Freude schafft es Martin Rafelt aber, die Perspektive um eine oder sogar zwei Ebenen zu erhöhen. Anstatt einzelner Spielszenen (die schaffen es höchsten beispielhaft ins Buch) konzentriert er sich auf größere Entwicklungslinien und idealtypische Abläufe. Auch die Sprache profitiert gefühlt vom Verlagslektoriat und ist gut verständlich.

Copyright: Die Werkstatt.
Copyright: Die Werkstatt.

Das Buch ist nach Saisons gegliedert, als Auftaktkapitel fungiert eine Beschreibung des Menschen und Trainers Jürgen Klopp. Hier punktet Rafelt aus meiner Sicht zum ersten Mal richtig, indem er betont, dass wir Jürgen Klopp nicht isoliert begreifen sollten, sondern als nach außen sichtbarsten Teil eines Trainerteams mit Peter Krawietz und Zeljko Buvac. Anschließend werden die sieben Jahre von Klopp beim BVB betrachtet. Dem Champions League Finale 2013 ist ein eigenes, kurzes Kapitel gewidmet. Ein Ausblick auf den FC Liverpool beendet das Buch.

Bei der Lektüre wurde mir erst verständlich, dass Klopp zwei Jahre benötigte, um den BVB vollkommen zu „seiner“ Mannschaft zu machen. Angesichts dessen sollten sich die Fans in Liverpool auf die Saison 2017/18 freuen. Nach den zwei Eingewöhnungsjahren folgten zwei unglaublich erfolgreiche Saisons, an deren Ende jeweils der Meistertitel stand. Die Saison 2012/13 lief national nicht wirklich gut, der Fokus lag eher auf der Champions League. Die beiden letzten Jahre waren dann von einem deutlichen Leistungsabfall gekennzeichnet.

Rafelt ist Fan von Jürgen Klopp, das wird immer wieder deutlich. Manche Beschreibung gerät darob vielleicht eine Spur zu euphorisch, allerdings spart er auch nicht mit kritischen Worten, etwa beim Thema Trainings- und Belastungssteuerung. Besonders gelungen finde ich die sieben Spielerporträts und sieben Exkurse (bspw. „Gegenpressing“, „Die Bedeutung des Zentrums“). Kevin Großkreutz und Marcel Schmelzer sehe ich seitdem in ganz anderem Licht und verstehe beispielsweise, warum Schmelzer beim BVB herausragend funktionierte, in der Nationalmannschaft aber gar nicht.

„Vollgasfußball“ ist ein Buch, das mich positiv überrascht hat.

Rafelt, Martin: Vollgasfußball. Die Fußballphilosophie des Jürgen Klopp. Die Werkstatt 2016. 175 Seiten.

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Der Verlag Die Werkstatt hat mir auf Anfrage ein Exemplar des Buches zur Verfügung gestellt.

Martin Rafelt hat mir zum Buch und seiner Sicht auf den Fußball auch ein paar Fragen beantwortet. Zum Interview geht es hier entlang.

Wunschzettel für Weihnachten

Noch gut fünf Wochen bis Weihnachten. Höchste Zeit also, sich Geschenke für Familie und Freunde zu überlegen. Und den eigenen Wunschzettel zu schreiben, um ihn an den Weihnachtsmann zu schicken. Ich habe ein paar Vorschläge zusammengestellt.*

Geistdörfer, Christian: Walter und ich. Die am schwierigsten zu beschenkenden Menschen? Väter. Schwiegerväter. Männer der vorherigen Generation. Die haben die große Zeit des Rallye-Sports in Deutschland mit den WM-Siegen von Walter Röhrl erlebt. Röhrls Beifahrer Christian Geistdörfer hat seine Erinnerungen aufgeschrieben und zahlreiche Bilder beigefügt. Perfekt, um viele Stunden in Erinnerungen zu schwelgen. Walter und ich bei Amazon kaufen.

Reng, Ronald: Mroskos Talente. Das Fußballbuch des Jahres der Deutschen Akademie für Fußballkultur. Von Ronald Reng, dessen Bücher immer lohnen. Über die prekäre Seite des Fußballbusiness. Titelfigur Lars Mrosko arbeitet als Scout unter anderem für Felix Magath. Als er keine Anstellung mehr findet, probiert er sich als Spielervermittler. Sehr gut geschrieben und mit neuen Perspektiven auf den Fußball. Mroskos Talente bei Amazon kaufen.

Harbach, Chad: Die Kunst des Feldspiels. Ein Roman, in dem Beziehungen das zentrale Thema ist. Die Beziehung zwischen Vater und Tochter, die Beziehung zwischen Freunden, die Beziehung zwischen einem Studenten und dem Uni-Präsidenten. Und die Beziehung des Protagonisten Henry Skrimshander zu seinem Lieblingssport Baseball. Solche Bücher möchte ich gerne auch zu anderen Sportarten lesen. Die Kunst des Feldspiels bei Amazon kaufen.

Agassi, Andre: Open. An Agassis Leben kam man um die Jahrtausendwende kaum vorbei. Schillernde Figur auf dem Tennisplatz. Ehe mit und Scheidung von Schauspielerin Brooke Shields. Seit 2001 verheiratet mit Steffi Graf. In seiner Autobiografie erzählt Agassi von alldem und noch viel mehr. Außergewöhnlich gut geschrieben. Sehr empfehlenswert auch das Hörbuch. Open bei Amazon kaufen. Open als Hörbuch bei audible kaufen.

Escher, Tobias: Vom Libero zur Doppelsechs. Solltet ihr das noch nicht im Regal (oder auf dem Reader) haben, wird es höchste Zeit. Ihr werdet den Fußball und seine Entwicklung besser verstehen. Einziger Nachteil: um euch anschließend ansprechend über Fußball unterhalten zu können, versorgt ihr am besten auch noch den Freundeskreis mit Eschers Buch. Vom Libero zur Doppelsechs bei Amazon kaufen.

Montague, James: Thirty-One Nil. Habt ihr auch manchmal das Gefühl, FIFA und UEFA machen mit dem ganzen Kommerz den Fußball kaputt? Dann folgt James Montague auf eine Reise zu den absoluten Außenseitern im Weltfußball und entdeckt den Zauber wieder, den das Spiel und die Aussicht auf eine WM-Teilnahme versprühen können. Auch für Leute mit Fernweh ein gutes Geschenk. Thirty-One Nil bei Amazon kaufen.

Squires, David: The Illustrated History of Football. Gerade erst erschienen. Das erhöht die Chance, dass der Fußballfreak in eurem Familien- oder Bekanntenkreis Squires großartigen Comic noch nicht hat. Er wird sich darüber freuen. Sehr. Und euch lange dankbar sein. The Illustrated History of Football bei Amazon kaufen.

 

Trojanow, Ilija: Meine Olympiade. Ihr seid mehr so der Fernsehsportler? War Ilija Trojanow auch. Bis er sich entschied, alle Sportarten der olympischen Sommerspiele auszuprobieren. Darüber hat er anschließend ein Buch geschrieben. Hat mir sehr gut gefallen und Lust gemacht, mal etwas Neues zu testen. Meine Olympiade bei Amazon kaufen. Das Hörbuch ist vom Autor selbst gelesen. Meine Olympiade als Hörbuch kaufen.

Reng, Ronald: Spieltage. Nochmal Ronald Reng. Weil seine Bücher so toll sind. Spieltage erzählt die Geschichte der Fußball Bundesliga am Beispiel einer einzelnen Person. Heinz Höher ist erst als Spieler dabei, dann als Trainer, und schließlich als Außenstehender, der nicht loslassen kann. Ich habe das Buch bisher zweimal gelesen, und dabei wird es sicher nicht bleiben. Gehört ins jedes Sportbuch Regal. Spieltage bei Amazon kaufen.

War noch kein Buch für Euch dabei? Dann wünscht Euch oder verschenkt ein Jahresabo von NoSports. Das Schwestermagazin der 11Freunde widmet sich allem außer Fußball. Oder wolltet Ihr nicht schon immer wissen, was Jürgen Hingsen heute so treibt? Sehr schick aufgemacht. Erscheint alle zwei Monate und gibt Euch im Abo Freude für ein ganzes Jahr. Hier geht’s zur Abo-Seite.

* Die meisten der erwähnten Bücher habe ich hier auf dem Blog schon vorgestellt. Bei den anderen bin ich noch nicht dazu gekommen. Gelesen habe ich aber alle.

Socrates vs. NoSports

Gleich zwei neue Sportmagazine sind in den letzten Wochen auf den deutschsprachigen Markt gekommen. Worin unterscheiden sich „Socrates“ und „NoSports“? Wenn ich nur eines kaufen sollte, welches wäre das?

Vorab das Zahlenwerk: Socrates erscheint monatlich, hat 116 Seiten und kostet 5,80 Euro. NoSports erscheint alle zwei Monate, hat 140 Seiten und kostet 6,80 Euro. Bevor ich in die Details einsteige, möchte ich zunächst den Mut der Macher begrüßen, mit neuen Magazinen an den Start zu gehen, die mehr zu bieten haben, als Fußball, Fußball, Fußball. Auch wenn uns vom Socrates-Cover Jürgen Klopp anschaut:

Titelbilder NoSports und Socrates
Jetzt am Kiosk: NoSports mit Dennis Schröder auf dem Titel und Socrates mit Jürgen Klopp.

Für die erste Ausgabe wollte die Socrates-Redaktion wahrscheinlich auf Nummer sicher gehen und hat sich deshalb für den Liverpool-Coach entschieden. NoSports setzte für Ausgabe No 1 auf Boris Becker. Diesmal trauen sie sich mit Basketballer Dennis Schröder (eingerahmt seinen Teamkollegen Paul Millsap und Dwight Howard) an ein unbekannteres Gesicht.

Die Titel verraten damit schon einen gravierenden Unterschied zwischen den beiden Magazinen. Während NoSports auch NoFootball heißen könnte, enthält Socrates einige Artikel über Fußballspieler und -trainer. Der Unterschied ist leicht zu erklären, denn NoSports ist das Schwesterblatt der etablierten Fußballzeitschrift 11Freunde und wird von der selben Redaktion gemacht. Socrates dagegen ist eigenständig, kommt aber auch nicht aus dem Nichts. Die Sportzeitschrift wurde vor knapp zwei Jahren in der Türkei gegründet und konnte sich dort schnell etablieren. Deutschland ist der erste Auslandsmarkt, den das Magazin erobern soll. Weitere sind schon in Planung.

Der NoSports merkt man im Artwork und Aufbau die Verwandtschaft zu 11Freunde an. Kleine Geschichten, ein lustiger Ticker und ein paar außergewöhnliche Fotos auf den ersten Seiten, dann die Kolumne eines ehemaligen Trainers. Statt Hans Meyer hier Ulli Wegner. Dann folgen die größeren Geschichten: die Titelgeschichte zu Dennis Schröder, eine Aufzählung der größten Rivalitäten der kommenden Wintersportsaison, eine Fotoreportage zu Bodybuildern, ein Porträt des Schachweltmeisters Magnus Carlsen usw. Weitere Sportarten, die in Heft No 2 enthalten sind: Rallye, Boxen, Radsport, Skateboarding, Eishockey, Snooker, Ski Alpin, Speedway. Den Abschluss bildet ein längeres Interview mit einem ehemaligen Sportstar. In Ausgabe Eins war das Jürgen Hingsen, diesmal Jens Weißflog. Dazu sind im Heft verschiedene Kolumnen verteilt: „Ein Leben in Zitaten“, „Lernen von den Profis“, „Vorher – Nachher“, „Praxistest“. Insgesamt eine sehr schöne Bandbreite, auch wenn man einigen Geschichten anmerkt, dass der Protagonist ein neues Produkt zu verkaufen hat (sogenannter „Wetten, dass…-Effekt“). Wer 11Freunde mag und sich für Sport jenseits des Fußballs interessiert, sollte NoSports auf jeden Fall testen.

Socrates versucht den Leser anzusprechen, „für den nicht das Ergebnis wichtig ist, sondern die Geschichte. Nicht die Aktualität, sondern die Nachhaltigkeit. Nicht das Geschlecht oder die Herkunft, sondern die Faszination.“ Titelgeschichte des deutschen Erstlings ist das „Game of Bosses“, eine Porträtserie über die Trainer der Meisterschaftsanwärter der englischen Premier League. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Interviews mit den Coaches der drei Topteams der deutschen Basketballliga. Weitere behandelte Sportarten sind Speerwurf, Radsport, Tennis, Baseball, Handball, Golf. Besonders ist die Zahl an Gastautoren, die Socrates gewinnen konnte: die (ehemaligen) Fußballer Nuri Sahin, Andreas Görlitz und Andreas Beck, sowie Schriftsteller Moritz Rinke. Das Artwork von Socrates setzt neben eingefärbten Fotos auf Zeichnungen, die mit philosophischen Sprüchen angereichert neben passenden Geschichten stehen. Beispielsweise steht eine Zeichnung von Steffi Graf mit einem Zitat von Rudyard Kipling („Wahre Größe beweist nur, wer Triumph und Niederlage gleich behandelt.“; steht auch im Spielertunnel von Wimbledon) neben einem Interview mit Angelique Kerber. Ich habe etwas mit der sehr kleinen Schrift im Magazin gehadert, da dürfen die Macher gerne nachjustieren. Außerdem hätte ich mir besonders zu den Interviews kleine Infokästen gewünscht, die mir etwas Hintergrund vermitteln. Ich bin zwar interessiert am Basketball, konnte den Ausführungen der Trainer aber nicht durchgehend folgen. Das Potential von Socrates zeigt sich vielleicht am besten im Interview mit Julian Nagelsmann. Das sollte für künftige Ausgaben die Richtschnur sein, dann ist Socrates sicher ein starker Player auf dem Markt für Sportmagazine.

Mein Fazit: Momentan hat NoSports leicht die Nase vorne, einen Testkauf ist aber auch Socrates allemal wert. Für mehr Vielfalt in der deutschen Sportberichterstattung.

The Illustrated History of Football

Ihr mögt Fußball? Und intelligenten Humor? Und vor Comics lauft ihr auch nicht gleich weg? Dann ist das genau euer Buch.

David Squires zeichnet einmal in der Woche eine Kolumne für den Guardian, in der er aktuelle Ereignisse im Fußball kommentiert. Das ist meistens sehr komisch. Jetzt hat Squires sich für sein erstes Buch die Geschichte des Fußballs vorgenommen. Das Ergebnis ist großartig.

Squires: The Illustrated History of Football
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Squires beginnt bei den Ursprüngen des Spiels, widmet sich auf einigen Seiten den viktorianischen Anfängen des neuzeitlichen Spiels und räumt den Ereignissen seit Erfindung der Weltmeisterschaften viel Platz ein. Dabei baut er in fast jedes Kapitel kleine Witze ein, etwa ein neumodisches Stehpult bei den Moderatoren des ersten Länderspiels zwischen England und Schottland. Diese kleinen Späße, gerne auch als wiederkehrende Anspielungen in unterschiedlichen Kapiteln, machen den Reiz des Buches aus, weswegen ich nicht zu viele vorab verraten möchte.

Die Kapitel sind stets zweigeteilt in einen kurzen Einführungstext und den dazugehörigen Comic. Texte und Sprachteile im Comic sind voll beißendem englischen Humor. Wenn es beispielsweise um die Einführung von Trikotwerbung geht, wird Barcelona hervorgehoben, die sich diesem Trend widersetzten und „years later (…) still only wear the logos of a global sports corporation, Qatar’s state airline and a manufacturer of washing machines“ (S. 147).

Dazu kommen popkulturelle Anspielungen. Beispielsweise taucht im Kapitel zum WM-Spiel Italien – Brasilien 1982 Onkel Junior aus den Sopranos auf, und Inter-Spieler Giacinto Facchetti hat einen Gastauftritt als Jack Torrance aus The Shining.

Ich rechne es David Squires hoch an, dass er bei allem Spaß auch ein Kapitel der Ermordung von Kolumbiens Kapitän Andres Escobar im Anschluss an das Ausscheiden bei der WM ’94 widmet. Allgemein ist Squires durchaus politisch und kritisch gegenüber dem Fußball. Die Fifa wird verspottet, die Zweifel rund um die WM-Siege von Italien ’34, Deutschland ’54 und Argentinien ’78 werden angesprochen. Wladimir Putin taucht genauso auf wie Angela Merkel, Boris Johnson und Kim Jung-Un.

Gibt es gar nichts zu kritisieren an diesem Fußballbuch? Eigentlich nicht. Allerhöchstens den leichten Schwerpunkt auf den englischen Fußball, der mir ein paar Anspielungen unverständlich machte. Auf so hohem Niveau habe ich in Bezug auf Bücher lange nicht geklagt.

Dieses Buch wird in diesem Jahr zurecht bei vielen Fußballfans unter dem Tannenbaum liegen. Meine Freunde zumindest *Achtung, Spoiler* können sich freuen.

Squires, David: The Illustrated History of Football. Century 2016. 208 Seiten.

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Der Verlag hat mir auf Anfrage ein Exemplar zur Verfügung gestellt.

# Auf dem Titelbild: Pelé, Johan Cruff, Sir Alex Ferguson, Franz Beckenbauer, ein generischer viktorianischer Spieler, Lew Jaschin (oben v.l.), ein Steinzeitmensch, Ferenc Puskas, Diego Maradona, Cristiano Ronaldo, Lionel Messi.

Das Spiel ist aus

Wahrscheinlich hatte ich zu hohe Erwartungen. Ich sah Schweinsteiger auf dem Titel, nach dem verlorenen „Finale dahoam“. Beim Reinblättern landete ich bei einer Geschichte über Rolf Töpperwien, den ich als Person immer schon skurril-interessant fand. Und mir war noch Tobias Eschers Satz im Ohr, dass er Verlierer interessanter findet als Gewinner. Deshalb habe ich „Das Spiel ist aus. Geschichten über das Verlieren“ von Holger Gertz beim Verlag angefragt.

Wie fast immer, wenn man sehr hohe Erwartungen hat, können diese fast nur enttäuscht werden. Holger Gertz ist Journalist für die Süddeutsche Zeitung und schreibt tolle Reportagen. Auch in „Das Spiel ist aus“ finden sich sehr schöne Geschichten. Zum Beispiel die über Töpperwien, den aus der Zeit gefallenen ZDF-Mann, die gleichzeitig eine Anklage gegen den Sender und seine zunehmende Verkumpelung mit den Sportlern ist.

Gertz: Das Spiel ist aus
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Sehr bewegend fand ich die Geschichte zweier kanadischer Sportler, die am Vorabend des Olympia-Attentates von München 1972 mit einer Gruppe erst spätabends ins olympische Dorf zurückkehrten, deshalb über den Zaun steigen mussten und dabei wahrscheinlich den palästinensischen Attentätern begegneten, die sich ebenfalls Zutritt zum Dorf verschafften. Eine Sportlerin fühlt sich deshalb noch heute mitschuldig am Tod der israelischen Sportler. Ihr Teamkollege hat die Ereignisse fast unmittelbar verdrängt. Gertz fängt die Stimmung der beiden sehr gefühlvoll ein. Das gelingt ihm auch bei der Erzählung um Nancy Glickman, die 2015 zu den European Maccabi Games nach Berlin reist. In die Stadt, in der ihrem Vater bei den olympischen Spielen 1936 der größte Erfolg seiner Laufbahn als Sprinter verwehrt wurde. Marty Glickman war als Läufer für das 4 x 100 m-Finale vorgesehen. Jesse Owens sollte und wollte angesichts seiner bereits drei Goldmedaillen den Platz im Quartett räumen. Eine Niederlage gegen den jüdischen Sprinter Glickman wollten die amerikanischen Teamverantwortlichen dann aber offenbar den nationalsozialistischen Gastgebern nicht zumuten und strichen ihn und einen weiteren jüdischen Läufer am Tag vor dem Finale aus dem schließlich siegreichen Team.

Ganz toll hat mir auch das Kapitel gefallen, das zur Fußball-WM 2006 in Celle spielt. Die niedersächsische Stadt beheimatete in der Zeit den WM-Neuling Angola. Gertz fängt anschaulich die Stimmung in der Stadt ein, die das afrikanische Team gewissermaßen adoptiert. Er erzählt, wie sich die Celler um die Beherbergung einer Mannschaft bemüht hatten und zeigt, wie sie die Angolaner unterstützt haben. Bei mir hat die Geschichte sofort die Frage aufgeworfen, wie das wohl in Zweiflingen, Bad Kissingen oder Niederkassel war. Kann da nicht mal jemand nachfragen?

Die Geschichte der angolanischen Mannschaft bringt für mich aber auch das große Problem des Buches von Holger Gertz auf den Punkt, denn ich kann darin beim besten Willen keine Verlierer erkennen. Klar, Angola muss nach der Vorrunde ohne Sieg abreisen. Die Mannschaft hat aber als WM-Neuling auch nur eines von drei Spielen verloren. Für ein Land, dass erst kurz vorher einen dreißig Jahre dauernden Bürgerkrieg beenden konnte, ist schon die Teilnahme mehr als respektabel.

Auch in anderen Kapiteln ist meiner Meinung nach der Bezug zu Niederlagen oder Verlierern stark konstruiert. Wenn etwa Marcel Reif zu einem Kommentatorentraining nach Nordkorea begleitet wird, ist die Bevölkerung des kommunistischen Staates sicherlich arm dran. Ihre Situation lässt sich aber nicht auf zehn Seiten erzählen, die zudem Reif in den Mittelpunkt rücken. Auch die Beschreibung des Sachsenhauses bei den Olympischen Winterspielen von Turin als emanzipatorische Abgrenzung zum traditionellen Deutschlandhaus liest sich zwar gut und etwas schnurrig, lässt mich aber keinen Verlierer erkennen.

Andere Geschichten sind schlicht veraltet. Gertz hat Lothar Matthäus zu Beginn seiner Tätigkeit bei Partizan Belgrad besucht. Das war in 2003. In der anschließenden Dekade hat sich bei Matthäus zu viel getan, als dass die Erzählung noch Relevanz hätte. Gleiches gilt für Borussia Dortmund, die 1997 zwar kurz vor dem Exodus standen, knapp 20 Jahre und drei Meistertitel später aber längst wieder zur wirtschaftlichen Elite des deutschen Fußballs zählen. Auch der Comeback-Kampf des 43-jährigen Henry Maske müsste heute anders erzählt, vielleicht besser eingebettet werden.

Da liegt vielleicht das Grundproblem des Buches. Gertz hat nämlich nicht neue Geschichten geschrieben, sondern bis auf Einleitung, ein kurzes Zwischenkapitel und den Schluss alte Reportagen aus der Süddeutschen Zeitung verwendet. Das ist natürlich legitim und einige der Geschichten haben es auf jeden Fall verdient, noch einmal gelesen zu werden. Ich hatte das einfach nicht erwartet und war deshalb etwas enttäuscht.

Insgesamt fehlt mir in „Das Spiel ist aus“ der rote Faden. Das Thema des Buches verspricht tolle Geschichten. Etwa über Raymond Poulidor, den ewigen Tour de France Zweiten. Oder die Unterschiede zwischen den Triple-Zweiten aus Leverkusen 2001 und München 2011. Oder Dirk Nowitzki 2006. Oder auch etwas zu Bayer Uerdingen, die als Verlierer der Umstrukturierungen der Sportförderung des Bayer Konzerns heute als KFC Uerdingen in der Oberliga spielen. Und bestimmt fänden sich noch viele weitere. So bleibt es ein Buch der verpassten Chancen. Einen Blick lohnt es dennoch.

Gertz, Holger: Das Spiel ist aus. Geschichten über das Verlieren. DVA 2016. 240 Seiten.

Das Spiel ist aus bei Amazon kaufen.

Das Buch wurde mir auf Anfrage vom Verlag zur Verfügung gestellt.