Fußballtaktik; Jonathan Wilson

Revolutionen auf dem Rasen

„Revolutionen auf dem Rasen“ (engl.: „Inverting the Pyramid“) ist wahrscheinlich das moderne Standardwerk zur Geschichte der Fußballtaktik. Vielleicht kann man im fußballaffinen Freundeskreis auch noch Expertenpunkte sammeln, wenn man bei Gelegenheit anmerkt, dass Jimmy Hogan als Vater des ungarischen, österreichischen und deutschen Fußballs gilt. Antwortet jemand aus der Runde, dass Hogan auch Großvater des brasilianischen Fußballs ist, hat er wohl auch das Buch von Jonathan Wilson gelesen. Als moderner Klassiker eröffnet es die Buchsport-Aktion „Klassiker 2017“.

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Das moderne Standardwerk zur Fußballtaktik

Passen war zunächst verpönt

Wilson baut sein Buch chronologisch auf und beginnt bei den Anfängen des neuzeitlichen Fußballs in England in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Fußball war zunächst ein Dribbelspiel, Passen war verpönt. Erstaunlicherweise brachen die heute eher für ihren rustikalen Stil bekannten Schotten mit dieser Ansicht und entwickelten einen Kurzpassfußball, der lange als Gegenthese zum englischen Spiel galt. Durch englische Trainer und Arbeiter verbreitete sich der Fußball um 1900 durch ganz Europa. Gemessen daran, welchen Stellenwert der Fußball heute einnimmt, ist durchaus bemerkenswert, wie jung dieser Sport eigentlich ist.

So kam auch der oben erwähnte Jimmy Hogan, ein vom schottischen Stil beeinflusster Engländer, zunächst in die Niederlande und kurz später nach Wien, wo er den Aufschwung des österreichischen Fußballs einleitete. Später wirkte er noch in Budapest und Dresden, wo er unter anderem den späteren deutschen Nationaltrainer Helmut Schön traf.

Wilson beleuchtet die Entwicklungen der Fußballtaktik stets aus englischer Perspektive. Er stellt also Entwicklungen in England, beispielsweise die Erfindung des W-M-Systems mit drei (anstatt zwei) Verteidigern durch Herbert Chapman, und die englischen Reaktionen auf kontinentaleuropäische Neuerungen in den Mittelpunkt. Ein Beispiel dafür ist die Einführung des Pressing  durch Viktor Maslow bei Torpedo Moskau ab 1942, die den Übergang zum modernen Fußball markiert.

Manche taktische Neuerung ist schon 60 Jahre alt

Die Lektüre führt einem auch des öfteren vor Augen, dass vermeintlich neue Entwicklungen nur Wiederentdeckungen alter Ideen sind. Die heute so häufig erwähnten Dreiecke, in denen die Spieler sich zueinander stellen sollen, um stets mindestens zwei Passoptionen zu haben, gab es bei den Tottenham Hotspurs schon 1950. Und mit dem In-Wort Fluidität, das die Anpassung des Systems durch vielfältige Verwendbarkeit der Spieler bezeichnet, lässt sich schon die ungarische Nationalmannschaft der 1950er Jahre beschreiben.

Der deutsche Fußball spielt in „Revolutionen auf dem Rasen“ so gut wie keine Rolle, was angesichts 18 Europapokalsiegen, vier Welt- und drei Europameisterschaften etwas überraschend scheinen mag. Allerdings waren deutsche Vereine selten Vorreiter in taktischen Dingen. Die perfekte Ergänzung zu Wilsons Buch ist hier „Vom Libero zur Doppelsechs“ von Tobias Escher.

Wilson, Jonathan: Revolutionen auf dem Rasen. Eine Geschichte der Fußballtaktik. Die Werkstatt, 2015 (4., erweiterte Auflage; 2011). 576 Seiten.

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Fire in Babylon

Cricket. Die Westindischen Inseln. Die englische Klassengesellschaft. Rassismus in Australien. Der Umgang mit dem südafrikanischen Apartheidsregime und denen, die gegen den Boykott verstießen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so viel aus einem Buch gelernt habe.

Allerdings habe ich auch lange nicht mehr so mit einem Buch zu kämpfen gehabt. Lesen über Cricket ist so, als ob man mit dem schwächeren Arm einen Schlagball werfen will. Grundsätzlich ist da schon so eine Ahnung, was passieren sollte. Praktisch aber kann man sich nicht auf jahrelang trainierte Abläufe und Instinkte verlassen. Konkret wusste ich von Cricket nur, dass es im britischen Commonwealth sehr beliebt ist und entfernt dem amerikanischen Baseball ähnelt. Begriffe wie „Bowler“, „Wicket“ oder „Over“ ließen sich mal mehr, mal weniger gut erschließen, weshalb ich nach etwa einem Viertel des Buches erstmal Erklärvideos zu den Cricketregeln geschaut habe. Dieses und dieses zum Beispiel.

Copyright: Yellow Jersey Press.
Copyright: Yellow Jersey Press.

Das Buch handelt vom Cricketteam der Westindischen Inseln, oder West Indies. Das sind zurzeit 15 karibische Staaten, sowie britische und nicht-britische Überseeterritorien, bspw. Jamaica, Antigua, Montserrat und Sint Maarten. Diese bilden zusammen eine  sogenannte „Test Cricket Mannschaft“, was in anderen Sportarten der Nationalmannschaft entspricht. Solche „Übersetzungen“ erforderte die Lektüre übrigens öfter. Das Lesegefühl war wie in einer Fremdsprache, die ich immer wieder in die „Muttersprache Fußball“ übersetzen musste.

Beleuchtet wird fast die gesamte Geschichte der West Indies Mannschaft seit dem ersten Test Match 1928. Der Fokus liegt aber auf dem Aufstieg zur weltbesten Mannschaft Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre. In den 1980ern sind die West Indies weltweit dominierend. Wendepunkt für die Abkehr von einem lockeren „Calypsostil“ sind Niederlagen gegen Australien und Indien Anfang der 1970er. Besonders die Serie gegen Australien führt den Spielern der Westindischen Inseln vor Augen, dass andere Mannschaften professioneller und stärker auf den Sieg fokussiert sind. Sie stellen daraufhin ihr Spiel um und setzen vier anstatt zwei „fast bowler“ ein. „Bowler“ sind die Wurfmänner, die den Ball ins Spiel bringen. Als „fast bowler“ werden Spieler bezeichnet, die den Ball auf etwa 150 km/h beschleunigen. Dieses Tempo gibt dem ca. 18 Meter entfernt stehenden Schlagmann große Probleme, den Ball zu treffen oder auszuweichen, falls der Ball auf seinen Körper kommt. „Fast bowling“ galt und gilt, nicht zuletzt in Verbindung mit hoch abspringenden Aufsetzern, als gefährlich und einschüchternd. Eine Verletzung des Schlagmanns wurde billigend in Kauf genommen. Für die West Indies wurde „fast bowling“ zum prägenden Stilmittel. Beispielhaft dieses Video zu Malcolm Marshall.

Es waren aber weniger die spielspezifischen Entwicklungen, die mir an „Fire in Babylon“ am besten gefallen haben. Mich hat die politische Reichweite beeindruckt, die Cricket in der Karibik hatte. Der Sieg der West Indies 1950 in England etwa gilt als wichtiger Schritt auf dem Weg zur Unabhängigkeit dieser Staaten, die bspw. Jamaika 1962 erlangte. Kapitän des Test Cricket Teams galt als „the most esteemed job in the whole Carribean“. Für große Kontroversen sorgte 1983 die Teilnahme einer westindischen Mannschaft an Einladungsspielen in Südafrika. Südafrika wurde zu der Zeit wegen der Apartheid sportlich boykottiert. Einige Spieler ließen sich dennoch mit hohen Geldsummen anwerben. Sie bezahlten den Bruch des Boykotts mit einer lebenslangen Spielsperre durch den westindischen Verband und sozialer Ächtung in der Heimat.

Fire in Babylon ist sicherlich ein forderndes Buch. Aber auch ein sehr lohnendes. Es erweitert den eigenen (Sport)horizont und bringt einem den Lieblingssport von etwa 2 Milliarden Menschen näher.

Lister, Simon: Fire in Babylon. How the West Indies Cricket Team Brought a People to its Feet. Yellow Jersey 2015. 352 Seiten.

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Das Buch basiert auf einem Film gleichen Namens von Stevan Riley. Den gibt es bei Amazon uk.

The Numbers Game

Tore die nicht fallen, sind wertvoller als solche, die fallen. Oder kurz: 0 > 1. Klingt im ersten Moment wenig sinnvoll. Statistisch bringt aber ein erzieltes Tor einer Mannschaft ungefähr einen Punkt. Ein „zu-Null-Spiel“ bringt im Schnitt 2,5 Punkte. Es lohnt sich also für Fuballmannschaften, das Verhindern von Gegentoren höher zu gewichten, als das Erzielen eigener Treffer. Oder wie Huub Stevens sagt: „Die Null muss stehen.“

Das ist eine kurze Episode aus „The Numbers Game“ der beiden Ökonomie- und Soziologieprofessoren Chris Anderson und David Sally. Sport und Statistik – da kommt vielen sofort Billy Beane mit Moneyball in den Sinn. Anderson und Sally übertragen die statistische Auswertung auf den Fußball. Sie beginnen bei den Anfängen der Statistik im Fußball mit Charles Reep um 1950, zeigen welche Fehler im Laufe der Zeit gemacht wurden („being comfortable with numbers isn’t the same as producing insights, though“) und werten zahlreiche Artikel und Aufsätze anderer Wissenschaftler aus.

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Copyright: Penguin Books

Der Ton des Buches ist dabei aber nicht akademisch trocken, sondern äußerst unterhaltsam. Beispielsweise bekommt bei der Darstellung der Real-Galacticos der frühen 2000er der Däne und Mittelfeldarbeiter Thomas Gravesen einen kleinen Seitenhieb ab.

Eine große Stärke von „The Numbers Game“ ist die weite Perspektive. Wo sich „The Nowhere Men“ auf den englischen Fußball beschränkte, ziehen Anderson/Sally immer wieder Parallelen zwischen den großen europäischen Fußballligen, vergleichen Entwicklungen einer Liga über mehrere Jahrzehnte, oder stellen Quervergleiche an zu anderen Sportarten wie American Football, Rugby, Basketball oder Handball. Zudem erleichtern sie das Verständnis komplexerer Darstellungen durch anschauliche Grafiken.

Fußball ist nicht, wie lange behauptet wurde, zu komplex, um statistisch analysiert zu werden. Das ist spätestens nach der Lektüre dieses Buches klar. Das Problem besteht nur noch darin, aus dem riesigen Datenberg, der im Profibereich für jedes Spiel erfasst wird, die richtigen Erkenntnisse zu ziehen. Die Vereine haben diesen Trend nach anfänglichem Zögern erkannt und ihr Trainerteam um Spiel- und Gegneranalysten erweitert. Einer der Vorreiter ist dabei, wohl auch durch die Nähe zur Deutschen Sporthochschule, der 1. FC Köln. Die Kölner beschäftigen drei Vollzeit- und 30 Teilzeitanalysten aus 15 Ländern für Profis, Amateure und die Jugendmannschaften.

Anderson und Sally schlagen einen deutlich versöhnlicheren Ton an als Michael Calvin in „The Nowhere Men“. Calvin beschreibt einen scharfen Kontrast und daraus resultierende Konflikte zwischen Scouts und den neumodischen Computertypen. Anderson/Sally sehen die Analyse als Erweiterung der Möglichkeiten von Trainern und Vereinsverantwortlichen zusätzlich zu den etablierten Systemen.

In der erweiterten Neuauflage von 2014 findet sich zusätzlich ein Kapitel zu Fußballweltmeisterschaften. Dort lernen wir beispielsweise, dass Mannschaften, die in der Vorrunde hohe Siege einfahren, eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, ins Halbfinale einzuziehen. Und bekommen Schritt für Schritt gezeigt, wie sich im 2010er Viertelfinale Ghanas Chancen auf den Halbfinaleinzug innerhalb weniger Minuten von fast 100 Prozent (Adiyiahs Kopfball Richtung Tor) über 75 Prozent (vor dem Elfmeter nach Suarez‘ Handspiel) auf 40 Prozent (vor Beginn des Elfmeterschießens, das Uruguay beginnt) verringern.

Wem Moneyball gefallen hat, der sollte dieses Buch lesen. Wem die Bücher von Malcolm Gladwell gefallen, der sollte dieses Buch lesen. Wer den modernen Fußball verstehen und einen Blick in die Zukunft wagen will, der sollte dieses Buch lesen.

Anderson, Chris und David Sally: The Numbers Game. Why Everything You Know About Football is Wrong. Penguin 2014 (2013). 400 Seiten.

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Deutsch (Übersetzung von Ronald Reng): Die Wahrheit liegt auf dem Platz. Warum (fast) alles, was wir über Fußball wissen, falsch ist. Rowohlt Taschenbuch 2014. 416 Seiten.

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The Nowhere Men

Michael Reschke? Schon mal gehört, ist der Kaderplaner von Bayern München. Paul Breitner? Klar, Weltmeister ’74, aktiv für Bayern, Real und Braunschweig. Heute Chefscout für den FC Bayern. Die beiden bilden die schillernde Spitze der Suche nach neuen Talenten für den größten Club Deutschlands. Schon Timon Pauls ist aber nur deshalb bekannt, weil er kürzlich mit erst 23 Jahren Chefscout für den Nachwuchsbereich wurde. Die weiteren Angestellten und Honorar-Späher kennt außerhalb der Branche dann niemand mehr. Geschweige denn die von Vereinen der zweiten oder dritten Liga. Und genau zu diesen Unbekannten, die sich im Auftrag des Fußballs überall und nirgends herumtreiben, nimmt uns Michael Calvin in „The Nowhere Men“ mit.

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Copyright: Random House

Allerdings nicht in Deutschland, sondern in England. Dort sind die Vereine der Profiligen ebenso wie in Deutschland verpflichtet, Jugendakademien zu unterhalten. Entsprechend werden talentierte Spieler schon im Grundschulalter intensiv beobachtet und angeworben. Die Scouts, die dafür die Plätze jeder mittelgroßen Stadt besuchen, treffen dabei sehr viel häufiger einander, als einen echten Rohdiamanten. Sie sind  die einzigen Besucher eines unterklassigen Spiels bei vier Grad und leichtem Nieselregen, werden teilweise mit Benzingeld abgespeist und müssen bei einem Trainerwechsel nicht selten um ihren Job fürchten, weil der neue Coach andere Leute mitbringt.

Calvin zeigt Schritt für Schritt, wie das Scouting für verschiedene Vereine abläuft, von der Auftragserteilung, über die Beobachtung des Spielers und gleichzeitige Erfassung wesentlicher Daten in einen Auswertungsbogen bis zur Eingabe der Daten in die Computermasken des jeweiligen Vereins.

Die Talentspäher wirken teilweise wie aus der Zeit gefallen und sehen sich und ihren Berufsstand durch das Aufkommen der Moneyball-Anhänger mit ihren Computer gestützten Analysen gefährdet. In Calvins Darstellung begegnen die Scouts den Veränderungen ablehnend und passiv-aggresiv, anstatt die Zusammenarbeit mit den Statistikexperten zu suchen. Ganz anders sehen wir das bei „The Numbers Game“, das ich unbedingt zur kontrastierenden Lektüre empfehle.

Calvins Buch gibt einen ungeschönten Blick hinter die Kulissen des Profifußballs. Ich hatte mehr als einmal das Gefühl, einen Blick auf einen aussterbenden Berufszweig zu werfen. Streckenweise hat mich The Nowhere Men etwas überfordert, weil mir viele der beschriebenen Personen nichts sagten, und ich auch mit den Vereinen der dritten englischen Liga nicht so vertraut bin. Dennoch lässt sich das Buch mit Gewinn lesen.

 

Calvin, Michael: The Nowhere Men. The Unknown Story of Football’s True Talent Spotters. Arrow 2014 (Century 2013). 400 Seiten.

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