Vom Libero zur Doppelsechs

Vom Libero zur Doppelsechs

Deutschlands größter Taktiknerd schreibt ein Buch – und es ist erstaunlich gut zu lesen. Tobias Escher, einer der Gründer von spielverlagerung.de, hat die Geschichte des deutschen Fußballs unter taktischen Gesichtspunkten aufgeschrieben. Dabei hat er erfreulicherweise nicht nur an Inhaber des Trainer-A-Scheins gedacht, sondern richtet sich an fußballinteressierte Leser, die das Spiel über „mehr kämpfen und mehr Laufbereitschaft“-Floskeln hinaus verstehen wollen. In Infokästen erklärt Escher Grundbegriffe wie Abseitsfalle, Raum- und Manndeckung und den Unterschied zwischen Taktik und System. Die Ausrichtung auf ein allgemeineres Publikum bedingt auch eine klarere, weniger ziselierte Sprache als auf Spielverlagerung. Das ist der Lesbarkeit sehr zuträglich.

978-3-499-63138-2
Copyright: Rowohlt Taschenbuch.

Der Aufbau des Buches erfolgt chronologisch. Angefangen mit der Einführung des Spiels in Deutschland durch englische Handelsreisende, über die ungarischen Einflüsse zwischen den Weltkriegen, die Aufbauarbeit Sepp Herbergers bis hin zur Professionalisierung seit Einführung der Bundesliga und den neuesten Entwicklungen von Jürgen Klopp und Pep Guardiola.

Der Fokus auf die Taktik sorgt dafür, dass der Leser ein gutes Gefühl bekommt für längere Entwicklungslinien und den seit Anbeginn schwelenden Wettstreit zweier Spielansätze, nämlich kontrolliertes Ballbesitzspiel gegen raumgreifendes Abschlussspiel. Prägendste Beispiele aus den letzten Jahren waren Guardiolas Bayern und Klopps BVB. Wir sehen diese Gegensätze aber schon 1850, wenn wir schottischen und englischen Fußball vergleichen, und später auch in Kontinentaleuropa mit der österreichisch-ungarischen Schule, der der „preußische Husarenstil“ entgegenstand. Diese große Debatte wurde im Laufe der Jahrzehnte immer wieder neu ausgetragen und um einzelne Aspekte erweitert, etwa Raum- oder Manndeckung, Abseitsfalle, Pressing. Selbst die Einführung verschiedener Spielsysteme orientiert sich stets daran, welche Art von Fußball gespielt werden sollte. Ein tief stehender Ausputzer eignet sich eher für einen defensiven Ansatz, der auf schnelles Offensivspiel setzt. Der offensiv agierende Libero dagegen begünstigt ein Spiel, bei dem der Ball kontrolliert ins letzte Spielfelddrittel gebracht werden soll.

Der offensive Libero, und das war für mich die vielleicht größte Überraschung bei der Lektüre, ist laut Escher der einzige originäre Beitrag des deutschen Fußballs zur Revolution der Taktik. Franz Beckenbauers Neuinterpretation des Ausputzers hob das Spiel der deutschen Nationalmannschaft und von Bayern München auf ein anderes Niveau und ermöglichte beiden Mannschaften große Erfolge.

Wenn aber Beckenbauers Libero die einzige deutsche Neuerung war, wie konnte der deutsche Fußball immer wieder Erfolge feiern? Tobias Escher bringt es auf eine knackige Formel: „Deutschland war schon immer ein Remix-Künstler in Sachen Fußball.“ Offensives Spiel mit Positionswechseln wurde Ende der 60er aus den Niederlanden übernommen, das Pressing und die Raumdeckung kamen in der zweiten Hälfte der 70er mit Rinus Michels und Ernst Happel. Helmut Groß und sein Schüler Ralf Rangnick schauten sich die Viererkette mit Raumdeckung über den gesamten Platz bei Arrigo Sacchi und dem AC Mailand ab, Jürgen Klopp integrierte das Gegenpressing des FC Barcelona in seinen Konterfußball.

Escher hat ein tolles Buch geschrieben, das eine prima Mischung aus fachlicher Tiefe und unterhaltsamer Lektüre bietet. Auch im Hinblick auf die nahende EM als Vorbereitung sehr zu empfehlen.

Escher, Tobias: Vom Libero zur Doppelsechs. Eine Taktikgeschichte des deutschen Fußballs. Rowohlt Taschenbuch 2016. 304 Seiten.

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Tobias Escher hat mir anlässlich der Veröffentlichung des Buches auch noch ein paar Fragen beantwortet. Zum Interview geht’s hier lang.

3 Gedanken zu „Vom Libero zur Doppelsechs“

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