Quiet Leadership

Zum ersten Juli übernimmt Carlo Ancelotti das Traineramt beim FC Bayern. Er war bereits Trainer beim AC Mailand, bei Chelsea, Paris Saint-Germain und zuletzt Real Madrid. Die Pause nach seinem Aus in Madrid hat er genutzt, um ein Buch über seine Art der Mannschaftsführung zu schreiben: „Quiet Leadership – Wie man Menschen und Spiele gewinnt“ (orig.: „Quiet leadership. Winning Hearts, Minds and Matches.“). Eine gute Möglichkeit, den neuen FCB-Coach durch seine eigenen Worte kennenzulernen.

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Das Buch ist in drei Teile („Erfolgskurven“, „Das Kerngeschäft“ und „Führen lernen“) und elf Kapitel gegliedert. Interessant hierbei ist, dass die deutschen Leser damit vorgeblich ein zusätzliches Kapitel „München“ bekommen. Tatsächlich sind lediglich die letzten Seiten von Kapitel 6 ausgegliedert worden. Jedem Kapitel folgt eine Einschätzung zu Ancelotti von ehemaligen Spielern, Gegnern oder Vorgesetzten wie Zlatan Ibrahimovic, John Terry, Paolo Maldini, Alex Ferguson und Milan-Manager Adriano Galliano. Nach dem deutschen „Zusatzkapitel“ äußert sich als tatsächliche Dreingabe Nationalspieler Toni Kroos zu seinem ersten Real-Trainer.

Im Zentrum des Buches stehen nicht taktische Überlegungen, Trainingsaufbau oder Spielerverpflichtungen, auch wenn all diese Bereiche angeschnitten werden. Ancelotti konzentriert sich auf den seiner Meinung nach wichtigsten Baustein für Erfolg in einer Gruppe, die Beziehungen untereinander. Diese sollen von Vertrauen und gegenseitigem Respekt geprägt sein. Die Spieler sollen sich etwa bei der Festlegung der Verhaltensregeln einbringen, weil sie sich dann stärker daran gebunden fühlen. Die Einbeziehung besonders der Führungsspieler ist für Ancelotti allgemein sehr wichtig, auch bei Trainingsformen und taktischer Aufstellung.

Mich hat sehr beeindruckt, wie abgeklärt und professionell Carlo Ancelotti das Fußballgeschäft sieht. Die Spieler, nicht der Trainer, sind für ihn die wichtigsten Angestellten des Vereins. Die normale Verweildauer eines Trainers bei einem Verein beziffert er auf drei Jahre. Darum sei es wichtig, für die vorhandenen Spieler das perfekte System zu finden, auch wenn er persönlich ein 4-4-2 bevorzugt. Als Beispiel führt er an, dass er bei Real in der Offensive ein 4-3-3 habe spielen lassen, weil Ronaldo sich als Linksaußen am wohlsten fühle. Zusätzlich orientiert Ancelotti an der Vereinskultur und der bisherigen Spielweise. Und wenn der Besitzer einen offensiven Fußball sehen wolle, dann sei es sein Job, genau dafür zu sorgen.

Ein weiterer Aspekt der Professionalität Ancelottis ist in meinen Augen, dass er viel Wert darauf legt, die Sprache zu lernen, um die Kultur des Vereins besser zu verstehen und sich besser einzuleben. Dasselbe erwartet er auch von seinen Spielern, und zwar innerhalb eines halben Jahres. Seine Begründung: „Wenn ich das in meinem Alter lernen kann, dann können die Spieler das erst recht.“

Ancelotti setzt sich vor der Vertragsunterschrift auch immer mit der Vereinskultur seines neuen Clubs auseinander, um die Erwartungen an ihn besser zu verstehen. Er fühle sich in einem familiären Umfeld wie bei Milan am wohlsten, könne sich aber auch auf unternehmerische Vereine wie Juventus einstellen. Im Zentrum seiner Arbeit stehen stets die Spieler. Mit Dingen, die er nicht kontrollieren kann, will er sich nicht groß aufhalten, sondern sie durch erfolgreiche Arbeit beeinflussen.

Carlo Ancelotti wird in Kürze 57 Jahre alt, wirkt aber sehr modern, wenn er über Aufgabenteilung spricht. Er beschreibt, wie die Aufgaben im modernen Profifußball für einen Einzelnen zu umfangreich geworden sind, und er sich deshalb auf seine Assistenten und Mitarbeiter verlässt. Dazu zählt er explizit auch die medizinische Abteilung, deren Expertise er vertraue. In Bezug auf die Nutzung von Datenanalyse zeigt er sich offen und selbstkritisch, verweist aber auch darauf, Daten nicht überzuinterpretieren. Aus diesem Teil stammt auch mein Lieblingssatz des Buches: „Es gibt genau einen Datensatz, der immer mit einem Sieg korreliert, und das sind Tore.“

Sämtliche Gastbeiträge heben hervor, welch großartiger Mensch Carlo Ancelotti sei. Er schaffe es, so etwa John Terry, zu den Spielern ein derartiges Vertrauensverhältnis aufzubauen, dass jeder bereit sei, alles für den Trainer zu geben. Auch Ancelotti selbst schätzt den Aufbau von Beziehungen als seine große Stärke ein. Aufgrund des tiefen gegenseitigen Vertrauens habe er beispielsweise Sergio Ramos überzeugen können, eine Zeit lang im Mittelfeld auszuhelfen. Die Gastbeiträge sind eine tolle Ergänzung zu den Ausführungen Ancelottis. Auch wenn sich die Aussagen stellenweise wiederholen, zeigt alleine der Umstand, dass sich große Egos wie Ronaldo und Ibrahimovic die Zeit für längere Interviews genommen haben, wie beliebt der Trainer bei seinen Mannschaften war.

Für Bayernfans lohnt die Lektüre sicherlich, bringt sie einem den neuen Trainer doch sehr persönlich näher. Aber auch, wer sich allgemein für die Arbeitsweise eines Spitzentrainers interessiert, ist mit dem Buch gut bedient. Zudem ist „Quiet Leadership“ als Management-Ratgeber angelegt und auch von der Seite mit Gewinn zu lesen.

 

Ancelotti, Carlo, Chris Brady und Mike Forde: Quiet Leadership – Wie man Menschen und Spiele gewinnt. Knaus 2016. 320 Seiten.

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Was mir sonst noch aufgefallen ist: gerade erscheinen eine Menge Bücher zum neuen Bayerntrainer. Da wittern die Verlage wahrscheinlich gute Geschäfte. Neben dem hier besprochenen gibt es noch

Ancelotti, Carlo: Die Autobiografie. Mit Allesandro Alciato und einem Vorwort von Paolo Maldini. Piper 2016. 240 Seiten.

(ital. orig.: Preferisco la coppa. Vita, partite e miracoli di un normale fuoriclasse. 2009.; eng.: The Beautiful Game of an Ordinary Genius. My Autobiography. Rizzoli 2010)

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Bei diesen lohnt eine Bildersuche, um die Titelseiten zu vergleichen. Das Image, das über Ancelotti so verbreitet wird, unterscheidet sich in den drei Ländern erheblich.

und

Vetten, Detlef: Carlo Ancelotti. Die Biografie. Riva 2016. 208 Seiten.

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Dieser Text erscheint in leicht abgewandelter Form auch beim Bayern-Fanblog Miasanrot.

Thirty-One Nil

Ein Zufallsfund beim Stöbern im Buchladen ist für mich bislang das Überraschungsbuch des Jahres, weil es die globale Faszination des Fußballs unglaublich greifbar macht. James Montagues „Thirty-One Nil“ beginnt im Jahr 2011 und endet im Frühjahr 2014. In knapp vier Jahren bereist Montague 20 Länder auf allen Kontinenten. Er verfolgt die Qualifikation zur WM-Endrunde in Brasilien und sieht weit mehr als nur Fußballspiele. Er wird bei brasilianischen Aufständen gegen die Regierung und die FIFA mit Tränengas beschossen, er trifft geflüchtete Spieler Eritreas, die sich in Australien ein neues Leben aufbauen, er begleitet den Kosovo bei den Bemühungen, offiziell anerkannt zu werden. Und uns als Leser nimmt er ganz nah mit ran an das Geschehen auf und vor allem abseits des Rasens.

In 16 Kapiteln plus Vor- und Nachwort reisen wir mit Montague an so abenteuerliche Orte wie Montserrat, Ruanda, Amerikanisch Samoa und Libanon. In Europa besuchen wir die historisch aufgeladenen Partien Rumänien gegen Ungarn und Serbien gegen Kroatien. Wir erleben mit, wie Island um ein Haar die kleinste Nation wird, die je an einer Fußballweltmeisterschaft teilgenommen hat. Und wir sind Zeuge, wie Ägypten, Afrikas erfolgreichste Nation der letzten 15 Jahre, wieder einmal beim Versuch scheitert, sich zum dritten Mal nach 1934 und 1990 für eine WM-Endrunde zu qualifizieren.

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Montague und damit auch der Leser steht auf der Seite der Außenseiter, der Schwachen und Chancenlosen. Der Halbamateure, die in den ersten Runden der WM-Qualifikation einsteigen und von der ganz großen Fußballbühne träumen. Und wir mit ihnen. Denn wenn die es schaffen können, dann könnten wir das eigentlich auch. Deshalb halten wir zu den Underdogs und freuen uns mit ihnen. Und für manche kommt unverhofft die Chance, dabeizusein und selbst am großen Traum zu werkeln. Etwa für Jay’Lee Hodgson, der in einer unterklassigen englischen Amateurmannschaft spielt, wegen seiner Abstammung an einem Probetraining für die Nationalmannschaft Montserrats teilnimmt und einige Wochen später im ersten Qualifikationsspiel für Brasilien 2014 auf dem Platz steht.

Eine besondere Stärke des Buches liegt darin, Länder in den Fokus zu rücken, die in der allgemeinen Berichterstattung keine Rolle spielen. Mir war beispielsweise nicht bewusst, dass Ruanda inzwischen nicht mehr das von Völkermord und Bürgerkrieg zerstörte Land aus den Nachrichten ist, sondern sich zu einem, wenn auch autokratisch geführten, Vorzeigestaat Afrikas gewandelt hat. Gegner Ruandas in der von Montague beobachteten Partie ist Eritrea, das „Nordkorea Afrikas“. Zeitweise war es der Nationalmannschaft Eritreas vom Staat untersagt, an Auswärtsspielen teilzunehmen, weil ganze Mannschaften die Chance genutzt haben, beispielsweise in Kenia politisches Asyl zu beantragen. Aus Ruanda kehren alle Spieler nach Eritrea zurück. Von einem Qualifikationsspiel zum Afrikacup einige Monate später nur eine Handvoll.

Der Titel des Buches spielt auf das höchste Ergebnis in einem internationalen Pflichtspiel an. Im April 2001 besiegte Australien die bemitleidenswerte Mannschaft von Amerikanisch Samoa mit 31:0. Das daraus resultierende Trauma trugen einige der Spieler zehn Jahre mit sich herum. Bis Amerikanisch Samoa 2011 gegen Tonga der erste Sieg seiner Länderspielgeschichte gelingt. Dass dabei der erste offizielle Transgender-Spieler mitwirkt, ist einer der vielen Randnotizen, die Montagues Buch so besonders machen.

Zur Abwechslung habe ich das Buch übrigens nicht gelesen, sondern das Hörbuch gehört. Gelesen vom britischen Schauspieler Julian Elfer, Spieldauer elfeinhalb Stunden. Hat mir sehr gut gefallen. Ich habe mich wahnsinnig gerne mit James Montague auf die Reise rund um den Globus begeben und kann den Trip uneingeschränkt empfehlen. Die Quali für die WM 2018 läuft auch schon längst, könnte man ja auch gleich mal schauen, wie es für Amerikanisch Samoa so läuft.

Montague, James: Thirty-One Nil. On the Road with Football’s Outsiders. A World Cup Odyssey. Bloomsbury 2014. 336 Seiten.

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EM-Vorbereitung

Jogi Löw hat seinen vorläufigen Kader bekanntgegeben. Höchste Zeit also, auch selber in die Vorbereitung für die Europameisterschaft einzusteigen. Die folgenden Bücher machen euch fit für Diskussionen am Arbeitsplatz und das gemeinsame Fußballschauen im Freundeskreis.

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Copyright: UEFA

Escher, Tobias: Vom Libero zur Doppelsechs. Vor kurzem erschienen und schon das Standardwerk zur taktischen Entwicklung des Fußballs ins Deutschland. „Götze heute für Gomez, also falsche Neun statt klassischem Mittelstürmer.“ Nach der Lektüre von Eschers Buch kein Kommentatoren-Fachchinesisch mehr. Wer dann noch auf Hidegkuti verweist, der für Ungarn schon 1954 eine ähnliche Rolle spielte, hat seinen Ruf als Experte weg. Vom Libero zur Doppelsechs bei Amazon kaufen.

 

Honigstein, Raphael: Der vierte Stern. In England im vergangenen Jahr als „Das Reboot“ auf den Markt gekommen, bringt uns Honigsteins Buch der Arbeitsweise Joachims Löws und der Entwicklung der aktuellen Mannschaft sehr nah. Es wird zum Beispiel klar, warum Löw 2012/14 eher auf Bayern- als auf BVB-Spieler setzte. Die Probleme der DFB-Mannschaft waren denen der Bayern einfach ähnlicher (tief stehende Gegner, daher viel eigener Ballbesitz). Das richtige Buch, um zum Löw-Versteher zu werden. Der Vierte Stern bei Amazon kaufen.

 

Anderson, Chris und David Sally: Die Wahrheit liegt auf dem Platz. DAS Buch zum Einsatz von Statistik und Wahrscheinlichkeiten im Fußball. Danach blickt man deutlich demütiger auf das Geschehen auf dem Rasen. Außerdem lernt man, welchen Aufwand Buchmacher betreiben, um die Quoten zu berechnen. Durchaus auch für’s Tippspiel im Büro nützlich. Die Wahrheit liegt auf dem Platz bei Amazon kaufen.

 

Noch nicht erschienen, aber bei den vergangenen Turnieren immer ein Muss: die EM-Vorschau von Spielverlagerung.de. Hier werden die teilnehmenden Mannschaften wirklich analysiert und die wichtigsten (nicht die bekanntesten) Spieler hervorgehoben. Erscheint erst nach Bekanntgabe der endgültigen Kader. Für mich das beste Vorschau-Heft am Markt. Mit einem Preis von 5,55 Euro zudem ein Schnäppchen. Das Heft direkt bei Spielverlagerung kaufen.

„Harry Potter geht immer.“ – Interview mit Tobias Escher

Taktiknerd Tobias Escher ist Gründer von Spielverlagerung, der vielleicht wichtigsten deutschen Fußballseite. Als freier Autor schreibt er u.a. für Zeit online und 11 Freunde. Außerdem unterstützt er das ZDF mit Taktikanalysen. Anlässlich der Veröffentlichung seiner Taktikgeschichte des deutschen Fußballs war er so nett, mir ein paar Fragen zu beantworten.

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Copyright: T. Escher

– Tobias, wann und warum hast Du angefangen, Dich intensiv für Fußballtaktik zu interessieren?

Das begann spätestens, als Jürgen Klopp bei der WM 2006 seinen Bildschirm mit Taktik-Malereien bekritzelt hat. Den richtigen Schub brachte dann Jonathan Wilsons Buch „Revolutionen auf dem Rasen“ über die Geschichte der Fußballtaktik in der Welt. Ab da war ich Taktiknerd.

– Wie entstand die Idee, eine Taktikgeschichte des deutschen Fußballs als Buch herauszubringen, und nicht als Serie auf spielverlagerung.de?

Die Idee hatte ich schon vor zwei Jahren. Es war nie als Serie auf Spielverlagerung angedacht, weil das selbst für unsere Verhältnisse zu lang gewesen wäre. Am Ende ist das Buch ja 300 Seiten lang geworden, und auf Spielverlagerung hätte ich sicher noch den ein oder anderen Nerd-Verweis hinzugefügt. Es war von Anfang an als Buch konzipiert.

– Wie hast Du recherchiert? Was waren deine Quellen?

Hauptquelle war – man höre und staune – der kicker. Heute hat der kicker nicht mehr so viel mit Taktik am Hut. Das war aber gerade in den früheren Jahren anders. Zum großen Spiel Ungarn gegen England im Jahr 1953 hatte der kicker zehn Sonderseiten, inklusive detaillierter Erklärung der „falschen Neun“ Hidegkuti! Ansonsten kamen die üblichen Recherchemittel zum Einsatz: Bis zum Jahr 1970 stütze ich mich hauptsächlich auf Buchquellen, danach gibt es sehr viel Videomaterial, anhand dessen man die taktische Entwicklung nachverfolgen kann.

– Welche taktische Entwicklung hat Dich bei Deiner Recherche überrascht?

Wenn man sich tagein, tagaus mit Taktik beschäftigt, kennt man bereits vor der Recherche die wichtigsten Eckpfeiler der Taktikgeschichte. Es waren eher die Details, die neu waren für mich. Rudi Gutendorfs totaldefensive Duisburger in den 60er Jahren beispielsweise, oder die offensiven Strategien eines Sepp Herbergers.

– Spielt Taktik heute eine größere Rolle als früher?

Ja, aber nicht so viel mehr, als man denkt. Natürlich ist der Fußball heute viel professioneller. Trainer müssen mehr tüfteln, können auch mehr tüfteln, weil die athletischen Möglichkeiten der Spieler größer sind. Vieles, was heute möglich ist, wäre vor 30 Jahren nicht zu machen gewesen – man denke nur an das ständige Nachsetzen im Gegenpressing. Aber manchmal wird mir zu sehr so getan, als wären das vor dreißig Jahren alles Idioten gewesen, die nicht wirklich darüber nachgedacht haben, was sie taten. Auch damals gab es Strategen und Taktiker, die sich was haben einfallen lassen – nur auf einem anderen Niveau.

– Innovationen werden häufig von Außenseitern ersonnen (Schuhverkäufer Sacchi, Brückenbauingenieur Groß), bei der Adaption scheinen dann aber die großen Mannschaften besonders schnell. Was lässt sich daraus für die „Mittelklasse-Mannschaften“ lernen?

Dass sie im Endeffekt die gelackmeierten sind. In den 90ern und 2000ern gab es eine Zeit, in der kleine Teams mit taktischen Innovationen für Aufsehen gesorgt haben, gerade in Deutschland. Vorsprung durch Innovation, könnte man sagen. Nun sind aber auch die großen Klubs dabei, den Fußball neu zu erfinden – Guardiola und Tuchel gehen dabei voraus. Das ist natürlich auch schädlich für die kleineren Klubs, bei denen dieser Wettbewerbsvorteil aktuell wegfällt.

– Wenn du eine Prognose wagen müsstest: wohin könnte die Entwicklung in den nächsten 10 Jahren taktisch gehen?

Die Jugendausbildung hat noch einmal einen Schritt nach vorne gemacht. Die Spieler beherrschen Technik und Taktik in Perfektion. Dadurch erhöhen sich auch die Möglichkeiten für die Trainer. Ich denke, das Spielerische wird etwas mehr in den Vordergrund rücken. Zugleich werden die Teams taktisch immer flexibler und flexibler.

– In welchem Jahrzehnt würdest Du gerne mal eine Saison lang Fußballspiele schauen?

Die späten Sechziger bzw. die frühen Siebziger. Beckenbauer, Netzer, Overath bei der Arbeit zusehen zu können, das hätte schon was. Zumal das Duell Bayern gegen Gladbach ja auch irre spannend und intensiv war.

– Wer ist der innovativste Trainer des deutschen Fußballs? Und welchen Spieler würdest Du für sein taktisches Geschick hervorheben?

Ich bin kein Freund des Superlativs. Viele Trainer haben dem deutschen Fußball neue Facetten geschenkt – meist indem sie Trends aus dem Ausland kopierten. Herberger, Weisweiler, Rangnick, Klopp – sie alle haben ihre Verdienste um den deutschen Fußball. Bei den Spielern ist der Superlativ hingegen recht einfach zu vergeben: Franz Beckenbauer. Die einzig originär deutsche Erfindung der Taktikgeschichte, der offensive Libero, wurde von Beckenbauer kreiert und perfektioniert.

– Du beschreibst sehr häufig den FC Bayern. Bist Du heimlicher Fan, oder gab es einfach am meisten Bildmaterial durch die vielen Europapokalspiele?

Nein, nein. Ich habe Respekt für die Arbeit des FC Bayern, keine Frage. Aber dass sie so häufig in meinem Buch vorkommen, liegt schlicht daran, dass sie in den vergangenen fünfzig Jahren die einsame Spitzenmannschaft im deutschen Fußball sind. Und das nicht nur wegen ihres Geldes, das ja in den ersten Jahren kaum eine Rolle spielten. Vielmehr waren sie der Welt auch taktisch ein Stück weit voraus – und sind es aktuell ja wieder mit ihrem Ballbesitzfußball.

– Mein Eindruck nach Lektüre Deines Buches ist, dass taktische Innovationen die Wahrscheinlichkeit von Erfolg erhöhen, rückständige Taktik diesen aber nicht ausschließt (vgl. WM 90, Bayern in der CL 01, EM 04). Welche anderen Faktoren sind nach Deiner Einschätzung wesentlich für erfolgreiche Mannschaften?

Ohne Einsatz, einen Hauch Spielkultur und einer guten Spielidee funktioniert es nie. Das sind alles Teilbereiche des Fußballs. Man kann Versäumungen aus einem Teilbereich mit Stärken in einem anderen Teilbereich wettmachen – zumindest war es lange Zeit so. Heute ist das kaum mehr möglich, dafür ist die Leistungsspitze zu dicht.

– Lass uns eine Runde Fantasy-Football spielen. Welche beiden Mannschaften der Fußballgeschichte würdest Du gerne auf der Höhe ihres Schaffens gegeneinander spielen sehen?

Ungarn 1953 gegen La Grande Inter (Inter Mailand aus den 60ern). Die spielstärkste Mannschaft gegen die defensiv- und konterstärkste – das wäre interessant. Dadurch, dass nur zehn Jahre zwischen den Teams liegen, fielen die körperlichen Unterschiede eher gering aus. Deutschland 1974 gegen Deutschland 2014 ergäbe bspw. wenig Sinn, weil Deutschland 2014 aufgrund der körperlichen Möglichkeiten 10:0 gewinnen würde.

– Und wenn wir schon bei Gedankenspielen sind: der Charakter des Spiels wurde mehrfach durch Regeländerungen verändert (Abseits 1925, Rückpass 1992). Welche Regel würdest Du gerne ändern und welchen Effekt versprichst Du Dir davon?

Der Einwurf gehört in seiner jetzigen Form abgeschafft. Er ist mehr Nach- denn Vorteil für das einwerfende Team. Es würde damit auch die Unsitte aufhören, dass der Ball einfach ins Aus gekloppt wird. Wenn man ganz radikal denken möchte, kann man ja einen Käfig um den Fußballplatz bauen. Dann gibt es kein Seitenaus mehr. Ansonsten würde erst einmal genügen, jegliche Technik beim Einwurf zu erlauben, sodass der Ball weiter fliegt.

– Hier bei Buchsport dreht sich alles um Bücher. Was sind Deine Lieblingsbücher – über Fußball und ganz allgemein?

Im Fußballbereich kommt man nicht an Ronald Reng vorbei. Seine Enke-Biographie hat mich im Inneren tief berührt. Jürgen Leinemanns Herberger-Biographie ist handwerklich noch einen Ticken besser als Rengs Buch. Ansonsten kann ich nur die großartige Hitler-Biographie von Ian Kershaw empfehlen. Und Harry Potter. Harry Potter geht immer.

– Welche Sportlerbiographie würdest du gerne noch lesen?

Ich bin kein riesiger Freund von Sportlerbiographien. Die meisten drehen sich um Siegertypen und bieten dementsprechend wenig Einblick. Daher mag ich auch die Bücher von Ronald Reng so sehr, weil er Sportlern eine Stimme schenkt, die nicht immer auf der Sonnenseite des Lebens gewatschelt sind. Daher weiß ich gar nicht, wen ich lesen möchte, weil ich die Person womöglich gar nicht kenne.

– Und welche schreiben?

Nachdem ich gerade die Herberger-Biographie gelobt habe, mag das etwas seltsam klingen, aber ich würde gerne eine Herberger-Biographie schreiben. Leinemanns Biographie erklärt sehr gut den Menschen Herberger als ein Produkt seiner Zeit. Aber Herbergers Ideen als Trainer kommen zu kurz. Er hat ja bergeweise Ordner mit Notizen und Ideen hinterlassen. Dadrin einfach mal rumzuwühlen und sich anzuschauen: „Was hat ein Trainer sich im Jahr 1954 bei seiner Aufstellung gedacht?“, das wäre großartig. Leider habe ich für mein Buch keinen Zugang zu Herbergers Nachlass erhalten.

Hier geht es zu meiner Besprechung von Tobias‘ lesenswertem Buch „Vom Libero zur Doppelsechs“.

Vom Libero zur Doppelsechs

Vom Libero zur Doppelsechs

Deutschlands größter Taktiknerd schreibt ein Buch – und es ist erstaunlich gut zu lesen. Tobias Escher, einer der Gründer von spielverlagerung.de, hat die Geschichte des deutschen Fußballs unter taktischen Gesichtspunkten aufgeschrieben. Dabei hat er erfreulicherweise nicht nur an Inhaber des Trainer-A-Scheins gedacht, sondern richtet sich an fußballinteressierte Leser, die das Spiel über „mehr kämpfen und mehr Laufbereitschaft“-Floskeln hinaus verstehen wollen. In Infokästen erklärt Escher Grundbegriffe wie Abseitsfalle, Raum- und Manndeckung und den Unterschied zwischen Taktik und System. Die Ausrichtung auf ein allgemeineres Publikum bedingt auch eine klarere, weniger ziselierte Sprache als auf Spielverlagerung. Das ist der Lesbarkeit sehr zuträglich.

978-3-499-63138-2
Copyright: Rowohlt Taschenbuch.

Der Aufbau des Buches erfolgt chronologisch. Angefangen mit der Einführung des Spiels in Deutschland durch englische Handelsreisende, über die ungarischen Einflüsse zwischen den Weltkriegen, die Aufbauarbeit Sepp Herbergers bis hin zur Professionalisierung seit Einführung der Bundesliga und den neuesten Entwicklungen von Jürgen Klopp und Pep Guardiola.

Der Fokus auf die Taktik sorgt dafür, dass der Leser ein gutes Gefühl bekommt für längere Entwicklungslinien und den seit Anbeginn schwelenden Wettstreit zweier Spielansätze, nämlich kontrolliertes Ballbesitzspiel gegen raumgreifendes Abschlussspiel. Prägendste Beispiele aus den letzten Jahren waren Guardiolas Bayern und Klopps BVB. Wir sehen diese Gegensätze aber schon 1850, wenn wir schottischen und englischen Fußball vergleichen, und später auch in Kontinentaleuropa mit der österreichisch-ungarischen Schule, der der „preußische Husarenstil“ entgegenstand. Diese große Debatte wurde im Laufe der Jahrzehnte immer wieder neu ausgetragen und um einzelne Aspekte erweitert, etwa Raum- oder Manndeckung, Abseitsfalle, Pressing. Selbst die Einführung verschiedener Spielsysteme orientiert sich stets daran, welche Art von Fußball gespielt werden sollte. Ein tief stehender Ausputzer eignet sich eher für einen defensiven Ansatz, der auf schnelles Offensivspiel setzt. Der offensiv agierende Libero dagegen begünstigt ein Spiel, bei dem der Ball kontrolliert ins letzte Spielfelddrittel gebracht werden soll.

Der offensive Libero, und das war für mich die vielleicht größte Überraschung bei der Lektüre, ist laut Escher der einzige originäre Beitrag des deutschen Fußballs zur Revolution der Taktik. Franz Beckenbauers Neuinterpretation des Ausputzers hob das Spiel der deutschen Nationalmannschaft und von Bayern München auf ein anderes Niveau und ermöglichte beiden Mannschaften große Erfolge.

Wenn aber Beckenbauers Libero die einzige deutsche Neuerung war, wie konnte der deutsche Fußball immer wieder Erfolge feiern? Tobias Escher bringt es auf eine knackige Formel: „Deutschland war schon immer ein Remix-Künstler in Sachen Fußball.“ Offensives Spiel mit Positionswechseln wurde Ende der 60er aus den Niederlanden übernommen, das Pressing und die Raumdeckung kamen in der zweiten Hälfte der 70er mit Rinus Michels und Ernst Happel. Helmut Groß und sein Schüler Ralf Rangnick schauten sich die Viererkette mit Raumdeckung über den gesamten Platz bei Arrigo Sacchi und dem AC Mailand ab, Jürgen Klopp integrierte das Gegenpressing des FC Barcelona in seinen Konterfußball.

Escher hat ein tolles Buch geschrieben, das eine prima Mischung aus fachlicher Tiefe und unterhaltsamer Lektüre bietet. Auch im Hinblick auf die nahende EM als Vorbereitung sehr zu empfehlen.

Escher, Tobias: Vom Libero zur Doppelsechs. Eine Taktikgeschichte des deutschen Fußballs. Rowohlt Taschenbuch 2016. 304 Seiten.

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Tobias Escher hat mir anlässlich der Veröffentlichung des Buches auch noch ein paar Fragen beantwortet. Zum Interview geht’s hier lang.