Fußballprofi – wirklich ein Traumjob?

Fußball ist in Deutschland Sportart Nummer 1. Millionen Mädchen und Jungen treten schon im Kleinkindalter an den Ball. Irgendwann gehen sie vielleicht in einen Verein und trainieren regelmäßig. Sie werden besser und fangen an zu träumen. Von vollen Stadien. Von der großen Karriere. Doch wie realistisch ist die eigentlich? Ab wann hat man es geschafft? Zur Beantwortung dieser Fragen habe ich mehrere Bücher gelesen und empfehle zusätzlich eine Zeitungsserie sowie einen Film.

Realistische Hoffnung auf eine Karriere als Profifußballer kann man sich machen, wenn man bei einem großen Verein in eine Jugendmannschaft aufgenommen wird. Für Fritz Engel war das in der D-Jugend der Fall. Er war in seiner ersten Mannschaft der überragende Spieler und konnte sich dort nicht weiterentwickeln. Da kam das Angebot von Hertha BSC genau passend. Im neuen Umfeld mit den leistungsstärkeren Mitspielern entwickelte Fritz sich prächtig, hatte mehr Spaß am Spiel als je zuvor. Irgendwann setzt ihn sein Trainer nicht mehr im Sturm ein, sondern schult Fritz zum Verteidiger um. Eine Verletzung und ein neuer Trainer bringen in der B-Jugend dann den Traum von der Bundesliga zum Kippen. Die großen Anstrengungen, die Fritz für die Doppelbelastung aus wieder gesund werden und Abitur ablegen auf sich nimmt, sehen die Verantwortlichen nicht. Plötzlich spielt Fritz in den Planungen des Trainers und dann auch des Vereins keine Rolle mehr. Er wird nicht in die nächste Saison übernommen und muss sich einen neuen Verein suchen. Ein Jahr spielt er noch zwei Ligen tiefer in Berlin, dann geht er mit einem Fußballstipendium an ein College in Florida.

Das Buch von Fritz‘ Eltern schildert die Fußballbegeisterung aus der Sicht der Mutter. Sie nimmt uns mit dem kleinen Fritz und seinem Ball mit auf den Spielplatz, auf den Weg zur Kita, zum ersten Vereinstraining und zu den Spielen. Ursula Engel hatte mit Fußball nicht viel am Hut, bevor ihr Sohn sich schon im Krabbelalter als leidenschaftlicher Kicker erwies. Durch Fritz‘ Vereinseintritt findet sie sich am Wochenende plötzlich auf zugigen Plätzen inmitten der anderen Eltern wieder, fährt im Winter mit zu Hallenturnieren und organisiert das eigene Leben rund um Schule und Hobby ihres Sohnes (und ihrer beiden Töchter) herum. Im privaten Umfeld muss sie gegen das Klischee der dummen Fußballer ankämpfen und sich rechtfertigen, warum ihr Sohn nicht etwa ein Musikinstrument lernt. Das Buch ist ein Gewinn für Eltern, die bei ihren Kindern Leidenschaften entdecken, und ein Muss für Eltern von Fußballern im Leistungsbereich.

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Copyright: Rowohlt

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Aufmerksam geworden auf das Buch von Ursula Engel und Bernd Ulrich bin ich durch eine Langzeitreportage von Michael Horeni in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Er hat Fritz Engel und seinen Teamkollegen Bilal Kamarieh knapp sechs Jahre lang begleitet und insgesamt zehn Artikel über ihren Werdegang von der U13 bis zur U19 geschrieben. Wir erleben mit, wie Fritz vom Stürmer zum Verteidiger umgeschult wird. Wie er den Verein verlassen muss, ein Studium beginnt und in die USA ans College wechselt. Und wir lernen Bilal kennen, der ebenfalls Stürmer ist, bald eine Einladung zur Jugendnationalmannschaft erhält und kurz darauf auch einen Berater und einen Ausrüstervertrag hat. Als er dann sogar einen Jahrgang überspringen darf, geht dem Jungen wohl etwas die Bodenhaftung verloren. Er kommt mit dem Trainer nicht zurecht und wird wieder in seinen Jahrgang versetzt. Schließlich verlässt er Hertha, um seiner Karriere anderswo einen neuen Schub zu geben.

Als Einstieg ist die Serie toll, das Buch der Eltern von Fritz setzt einen spannenden Kontrast und vermittelt die ergänzende Innenansicht.

Hier geht es zum FAZ-Archiv der Serie „Bilal und Fritz“ und hier zur letzten Folge (die im Archiv nicht verlinkt ist).

Der Übergang vom Jugend- zum Männerfußball wird stets als besonders kritische Phase beschrieben. Die Situation hat sich noch verschärft dadurch, dass zahlreiche Profivereine ihre Amateurmannschaften vom Spielbetrieb abgemeldet haben. So fehlt Talenten die bislang nicht selten genutzte Möglichkeit, zumindest zeitweise mit den Profis zu trainieren und bei den Amateuren Spielpraxis zu sammeln. Zwei Arten von Vereinen könnten von dieser neuen Situation profitieren. Zum einen Vereine der dritten und zweiten Liga, die von talentierten Jugendlichen wegen der erwarteten höheren Spielanteile als Karriereschritt und Sprungbrett genutzt werden. Aber auch Erst- und Zweitligisten, die in der dritten und vierten Liga nach solchen Spielern scouten, die im Jugendbereich eine gute Ausbildung genossen, den direkten Sprung in einen Profikader verpasst und ein oder zwei Saisons später die entsprechenden Entwicklungsschritte nachgeholt haben.

Timo Heinze ist ein Spieler, der den Sprung vom hochgelobten Jugend- zum Bundesligaspieler nicht geschafft hat. Dabei hatte er beste Voraussetzungen, spielte schon in der Jugend beim FC Bayern, war Jugendnationalspieler und später Kapitän der Bayern-Amateurmannschaft. Dann aber kam das plötzliche Aus. Seinen Abschied vom Leistungssport hat Heinze in „Nachspielzeit. Eine unvollendete Fußballkariere“ verarbeitet.

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Geschrieben hat Heinze das Buch auf einer Reise nach Bali. Daher liest es sich wie ein Tagebuch, in dem sich Kapitel über seine Reiseerlebnisse abwechseln mit solchen, in denen er sich an seiner Zeit als Fußballer erinnert. Für meinen Geschmack hätten die Bali-Kapitel ruhig gekürzt werden können. Das Erlebte findet sich ganz ähnlich auch in Schilderungen anderer Backpacker, die mit Anfang 20 in Südostasien unterwegs waren. Vielleicht hätten mich die Teile mehr angesprochen, wenn ich ähnliche Erfahrungen hätte. Die Fußball-Kapitel fand ich deutlich interessanter. Heinze berichtet, dass seine Mutter ob der Belastung zunächst skeptisch war, als der FC Bayern ihn mit zwölf Jahren für die Jugend verpflichten wollte, er sich aber nach einem Probetraining familienintern durchgesetzt hat und gewechselt ist. Im Anschluss durchlief er sämtliche Jugendteams, zunächst als Angreifer, später auf der rechten Seite und im defensiven Mittelfeld. Er registrierte früh, dass nicht alle Spieler automatisch in den nächsten Jahrgang übernommen werden, war selbst aber nie gefährdet. Folgerichtig landet er nach der Jugend bei den Bayern-Amateuren. Dort setzen ihn im ersten Jahr Schmerzen an den Leisten und schlecht verheilendes Narbengewebe nach der notwendigen Operation außer Gefecht. Mit großem Ehrgeiz kämpft Timo Heinze sich zurück. Eine komplette Saison braucht er, um sein altes Niveau wiederzuerlangen. Bereit, in der kommenden Saison voll anzugreifen und sich einen Stammplatz zu sichern, reißt er sich im ersten Training der neuen Saison die Syndesmose. Erst in der Rückrunde setzt er sich, auf neuer Position als Rechtsverteidiger, im Team fest. Für eine Perspektive im Profiteam des FC Bayern reicht es aber nicht mehr. Dafür hat ihn die Verletzung zu viel Entwicklungszeit gekostet. Mit 23 Jahren ist klar, dass er seinen auslaufenden Vertrag bei den Bayern nicht verlängern wird. Zur Rückrunde seiner letzten Saison wird er Kapitän der Mannschaft, hat ernsthafte Anfragen mehrerer Zweitligisten. Und findet sich nach einigen ordentlichen und zwei schwächeren Spielen auf der Bank wieder. Eine Erklärung von Trainer Hermann Gerland gibt es nicht, und auch kein zurück aufs Spielfeld, abgesehen von wenigen Minuten als Einwechselspieler. Von heute auf morgen ist Timo Heinzes Karriere beim FC Bayern beendet. Er versucht später in Unterhaching noch einen Neustart, doch der dortige Trainer Ralph Hasenhüttl steht nicht auf ihn und wollte ihn auch nicht verpflichten. Anschließend stellt Timo Heinze seine Fußballschuhe in den Schrank, fährt zum Abstand-Gewinnen nach Bali und beginnt ein Studium an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Heute spielt er Futsal.

Die wahre Stärke von Timo Heinzes Buch sind nicht die Schilderungen der einzelnen Trainings oder Spiele, sondern die spürbare Enttäuschung über sein plötzliches und unerwartetes Aus, die Einsamkeit nach einer Verletzung, wenn plötzlich kein Teamkollege mehr anruft, die Klarheit, mit der die Härte des Geschäftes hier greifbar wird. Junge, ambitionierte Spieler bekommen von Timo Heinze sehr klar vor Augen geführt, wie schnell der Traum von der Fußballkarriere vorbei sein kann.

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Auch Bilal Kamarieh aus der FAZ-Serie steht gerade am Scheideweg. Er ist im letzten Jugendjahr von Hertha BSC zu Mainz 05 gewechselt. Dort lief es mit 23 Einsätzen in der A-Jugend Bundesliga in der Saison 2014/15 recht ordentlich. In der abgelaufenen Spielzeit 15/16, seiner ersten im Herrenbereich, kam er in der zweiten Mannschaft der Mainzer aber nur  auf 25 Spielminuten verteilt auf vier Einsätze. Bei noch einem Jahr Vertragslaufzeit könnte die nächste Saison schon darüber entscheiden, ob sich Bilal seinen Traum von der ersten Liga wird erfüllen können.

Und selbst wer es schafft und einen Kaderplatz in der ersten, zweiten oder dritten Liga ergattert, kann sich seiner Sache nicht sicher sein. Die derzeit 56 Nachwuchsleistungszentren bringen konservativ gerechnet jährlich 500 Spieler heraus, die sich auf freie oder noch besetzte Arbeitsplätze im Berufsfußball bewerben. Da wird es für einen Mittzwanziger, der in der zweiten Liga bislang so mitgeschwommen ist, schon mal eng. Trainer und Manager probieren es dann vielleicht lieber mit einem 18-Jährigen, der noch Entwicklungspotential hat, anstatt den Vertrag eines Durchschnittskickers zu verlängern.

Mehr zu dieser Problematik in meinem Kurzinterview mit VDV-Geschäftsführer Ulf Baranowsky hier.

Aljoscha Pause, Christian Micolajczak, Benjamin Schüssler, Nico Frommer
DVD Cover von Zweikämpfer

Den aussortierten Spielern, die nicht sofort einen neuen Verein finden, bietet die Spielergewerkschaft VDV ein eigenes Trainingscamp. Unter der Anleitung eines (ebenfalls arbeitslosen) Trainers wird eine Saisonvorbereitung simuliert, damit der Rückstand auf die arbeitenden Kollegen nicht zu groß wird und der Einstieg ins reguläre Mannschaftstraining bei einem Vertragsangebot möglichst reibungslos verläuft.

Der Filmemacher Mehdi Benhadj-Djilali durfte einen Sommer lang ganz nah ran an die Spieler des VDV Trainingscamps. Er begleitete die Mannschaft beim Training. Saß in der Kabine, als Trainer Christian Wück die Spieler in der Halbzeit einer Testpartie gegen einen Oberligisten zusammenstauchte. Und fuhr mit Christian Mikolajzcak und Benjamin Schüßler nach Vietnam, wo die beiden an Auswahltrainings teilnahmen. Sogar in die Familien namen einige Spieler den Regisseur mit.

Die Abgründe, die sich dabei auftun, sind teilweise erschreckend. Gestandene Bundesligaspieler finden in der dritten Liga keine Anstellung mehr. Wer mit Ende 20 aus der Rotation herausfällt, hat fast keine Chance auf eine Rückkehr. Die Suche nach sinnvoller Beschäftigung für das weitere Berufsleben kann dann sehr schwierig sein, und verläuft nicht immer so erfolgreich wie bei Christian Mikolajzcak, der heute als Feuerwehrmann arbeitet.

Der Film von Mehdi Benhadj-Djilali ist authentisch und dabei stellenweise sehr lustig. Wem beispielsweise „Tom meets Zizou“ über die Karriere von Thomas Broich gefallen hat, der wird auch „Zweikämpfer“ mögen.

Die Erstellung der DVD zu Zweikämpfer wurde per Crowdfunding finanziert und kann inzwischen auf Amazon gekauft werden.

Einen guten Überblick über das Berufsbild Fußballspieler vermittelt „Traumberuf Fußballprofi. Der harte Weg vom Bolzplatz in die Bundesliga“. Jörg Runde und Thomas Tamberg beleuchten den Profifußball aus sämtlichen Lagen.

Talentsichtung, Zusammenarbeit mit den Schulen, Persönlichkeitsentwicklung, Einfluss des Umfelds, Gründe fürs Aufhören – alleine bei der Betrachtung des Nachwuchsfußballs zeigt sich, wie umfassend „Traumberuf Fußballprofi“ geschrieben ist.

Fußballprofi, Tamberg, Runde, Sportbuch, Buch, Fußballbuch
Copyright: Wiley-VCH

Meine favorisierten Kapitel schildern die Jagd der Spielervermittler nach neuen Kunden, beleuchten die Praktiken von Spielerberatern und zeigen, wie unterschiedlich die Zeit nach der Karriere verlaufen kann. Außerdem nennen Runde und Tamberg Zahlen und Namen. Namen von guten Beratern. Zahlen bezüglich der Verdienstmöglichkeiten in den oberen vier Ligen Deutschlands. Alleine deswegen gehört das Buch in die Hände eines jeden Spielers aus den Nachwuchsleistungszentren. Und auch der interessierte Zuschauer wird schwerlich ein umfassenderes Buch zu sämtlichen Aspekten des Fußballs als Beruf finden.

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Alle in diesem Post vorgestellten Bücher:

Engel, Ursula und Bernd Ulrich: Mama, Papa, ich werd‘ Fußballprofi. Rowohlt 2014, 224 Seiten.

Heinze, Timo: Nachspielzeit. Eine unvollendete Fußballkarriere. Rowohlt 2012, 240 Seiten.

Runde, Jörg und Thomas Tamberg: Traumberuf Fußballprofi. Der harte Weg vom Bolzplatz in die Bundesliga. Wiley-VCH 2014 (2. Auflage), 315 Seiten.

Vom Libero zur Doppelsechs

Vom Libero zur Doppelsechs

Deutschlands größter Taktiknerd schreibt ein Buch – und es ist erstaunlich gut zu lesen. Tobias Escher, einer der Gründer von spielverlagerung.de, hat die Geschichte des deutschen Fußballs unter taktischen Gesichtspunkten aufgeschrieben. Dabei hat er erfreulicherweise nicht nur an Inhaber des Trainer-A-Scheins gedacht, sondern richtet sich an fußballinteressierte Leser, die das Spiel über „mehr kämpfen und mehr Laufbereitschaft“-Floskeln hinaus verstehen wollen. In Infokästen erklärt Escher Grundbegriffe wie Abseitsfalle, Raum- und Manndeckung und den Unterschied zwischen Taktik und System. Die Ausrichtung auf ein allgemeineres Publikum bedingt auch eine klarere, weniger ziselierte Sprache als auf Spielverlagerung. Das ist der Lesbarkeit sehr zuträglich.

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Copyright: Rowohlt Taschenbuch.

Der Aufbau des Buches erfolgt chronologisch. Angefangen mit der Einführung des Spiels in Deutschland durch englische Handelsreisende, über die ungarischen Einflüsse zwischen den Weltkriegen, die Aufbauarbeit Sepp Herbergers bis hin zur Professionalisierung seit Einführung der Bundesliga und den neuesten Entwicklungen von Jürgen Klopp und Pep Guardiola.

Der Fokus auf die Taktik sorgt dafür, dass der Leser ein gutes Gefühl bekommt für längere Entwicklungslinien und den seit Anbeginn schwelenden Wettstreit zweier Spielansätze, nämlich kontrolliertes Ballbesitzspiel gegen raumgreifendes Abschlussspiel. Prägendste Beispiele aus den letzten Jahren waren Guardiolas Bayern und Klopps BVB. Wir sehen diese Gegensätze aber schon 1850, wenn wir schottischen und englischen Fußball vergleichen, und später auch in Kontinentaleuropa mit der österreichisch-ungarischen Schule, der der „preußische Husarenstil“ entgegenstand. Diese große Debatte wurde im Laufe der Jahrzehnte immer wieder neu ausgetragen und um einzelne Aspekte erweitert, etwa Raum- oder Manndeckung, Abseitsfalle, Pressing. Selbst die Einführung verschiedener Spielsysteme orientiert sich stets daran, welche Art von Fußball gespielt werden sollte. Ein tief stehender Ausputzer eignet sich eher für einen defensiven Ansatz, der auf schnelles Offensivspiel setzt. Der offensiv agierende Libero dagegen begünstigt ein Spiel, bei dem der Ball kontrolliert ins letzte Spielfelddrittel gebracht werden soll.

Der offensive Libero, und das war für mich die vielleicht größte Überraschung bei der Lektüre, ist laut Escher der einzige originäre Beitrag des deutschen Fußballs zur Revolution der Taktik. Franz Beckenbauers Neuinterpretation des Ausputzers hob das Spiel der deutschen Nationalmannschaft und von Bayern München auf ein anderes Niveau und ermöglichte beiden Mannschaften große Erfolge.

Wenn aber Beckenbauers Libero die einzige deutsche Neuerung war, wie konnte der deutsche Fußball immer wieder Erfolge feiern? Tobias Escher bringt es auf eine knackige Formel: „Deutschland war schon immer ein Remix-Künstler in Sachen Fußball.“ Offensives Spiel mit Positionswechseln wurde Ende der 60er aus den Niederlanden übernommen, das Pressing und die Raumdeckung kamen in der zweiten Hälfte der 70er mit Rinus Michels und Ernst Happel. Helmut Groß und sein Schüler Ralf Rangnick schauten sich die Viererkette mit Raumdeckung über den gesamten Platz bei Arrigo Sacchi und dem AC Mailand ab, Jürgen Klopp integrierte das Gegenpressing des FC Barcelona in seinen Konterfußball.

Escher hat ein tolles Buch geschrieben, das eine prima Mischung aus fachlicher Tiefe und unterhaltsamer Lektüre bietet. Auch im Hinblick auf die nahende EM als Vorbereitung sehr zu empfehlen.

Escher, Tobias: Vom Libero zur Doppelsechs. Eine Taktikgeschichte des deutschen Fußballs. Rowohlt Taschenbuch 2016. 304 Seiten.

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Tobias Escher hat mir anlässlich der Veröffentlichung des Buches auch noch ein paar Fragen beantwortet. Zum Interview geht’s hier lang.

Der Vierte Stern

Ein Fußballbuch mit Anspielungen auf Star Trek, Game of Thrones und Nintendo-Spiele der 80er Jahre – besser kann es eigentlich nicht kommen. Trotzdem bin ich mit Raphael Honigsteins „Der Vierte Stern“ nicht restlos glücklich.

Honigstein, seit mehr als 20 Jahren als Journalist in London beheimatet, nimmt den Leser mit auf den Erneuerungsweg der Deutschen Fußballnationalmannschaft seit der Amtsübernahme von Jürgen Klinsmann.

Als erzählerischen Rahmen wählt er die Weltmeisterschaft 2014, die mit dem Titelgewinn endet. Jedes Spiel bekommt ein eigenes Kapitel, und jedes Kapitel vertieft zusätzlich einzelne Aspekte der Reformen im deutschen Fußball. Zudem werden passend zur Begegnung Schlüsselspieler der 2014er Mannschaft in kurzen Porträts vorgestellt, etwa im Auftaktspiel gegen Portugal der dreifache Torschütze Thomas Müller oder Manuel Neuer als Prototyp des neuen Torwartspiels im Achtelfinale gegen Algerien.

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Copyright: Ullstein Verlag.

Die aus meiner Sicht stärksten Kapitel gehen etwas weg von der Nationalmannschaft und befassen sich intensiv beispielsweise mit der Jugendförderung durch DFB und Bundesliga, mit der Rolle der schwäbischen Fußballlehrerschule bei der Einführung von Viererkette und ballorientierter Raumdeckung oder den Veränderungen in der Spielanalyse.

Zur Jugendförderung hat Honigstein sich mit Dietrich Weise getroffen, der Anregungen zur Errichtung von Nachwuchsleistungszentren (NLZ) und Stützpunkten schon 1996 gegeben hat. Honigstein räumt mit den Mythen auf, dass die schwachen Auftritte bei der WM 1998 oder den Euros 2000 und 2004 die Initialzündung für das Engagement in der Nachwuchsarbeit bildeten. Stattdessen waren solche Ereignisse eher Katalysatoren, um begonnene Entwicklungen zu beschleunigen.

Das Ergebnis ist heute jedes Wochenende zu sehen. Zehn Jahre nach Einführung der NLZ entstammt diesen mehr als die Hälfte der Bundesligaspieler. Als Vergleichszahl erreichen von 5800 in NLZ oder Stützpunkten ausgebildeten Spielern eines Jahrgangs nur 21 die Bundesliga, das sind 0,3%. Ein weiterer Aspekt der besseren Nachwuchsförderung ist die Kooperation mit sogenannten Eliteschulen des Fußballs. Die daraus resultierende höhere Abiturquote unter Fußballspielern nennt Honigstein „Umkleidekabinen-Gentrifizierung“. Das war mein persönliches Highlight bei der Lektüre.

Verteilt im Buch finden sich drei Gastbeiträge. Thomas Hitzlsperger beschreibt seine WM 2006, Jürgen Klinsmann erzählt von der anschließenden Übergabe an Joachim Löw, und Arne Friedrich lässt die WM 2010 Revue passieren.

Das Buch erschien ursprünglich mit dem schönen Titel „Das Reboot“ in England. Dort blicken die Fans seit einiger Zeit neidisch nach Deutschland und wünschen ihren Three Lions ein ähnliches Wiedererstarken. Einige Episoden des Buches erklären sich wohl auch aus diesem Fokus. In Deutschland vielfach erzählt, sind Hoeneß‘ „Greenkeeper-Lothar-Rede“, Völlers „Weißbier-Waldi-Attacke“ oder Schweinsteigers „Cousine im Entmüdungsbecken“ für englische Leser vermutlich neue, amüsante Anekdoten.

Einige Male habe ich mir beim Lesen gewünscht, ich hätte das englischsprachige Original und nicht Ronald Rengs Übersetzung gekauft. Zwar ist Rengs Sprache gewohnt lesenswert. Das Lektorat des Verlages war aber leider ziemlich schlecht. Kleinere Fehler wie die Beschreibung André Schürrles, der für seine „ganz nicht so wendigen Dribblings“ bekannt sei (S. 166), können immer passieren, keine Frage. Dass aber im Porträt über Thomas Müller offenbar ein Halbsatz fehlt (S. 49), oder ein Absatz über inverse Außenstürmer in leicht unterschiedlicher Form doppelt ist (S. 146/147), ist nicht akzeptabel und wird in einer zweiten Auflage hoffentlich korrigiert.

Insgesamt ist „Der Vierte Stern“ aber ein tolles Buch und eine prima Einstimmung auf die kommende Europameisterschaft.

Honigstein, Raphael: Der Vierte Stern. Wie sich der deutsche Fußball neu erfand. Ullstein 2016. 384 Seiten. (Übersetzung aus dem Englischen von Ronald Reng).

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The Numbers Game

Tore die nicht fallen, sind wertvoller als solche, die fallen. Oder kurz: 0 > 1. Klingt im ersten Moment wenig sinnvoll. Statistisch bringt aber ein erzieltes Tor einer Mannschaft ungefähr einen Punkt. Ein „zu-Null-Spiel“ bringt im Schnitt 2,5 Punkte. Es lohnt sich also für Fuballmannschaften, das Verhindern von Gegentoren höher zu gewichten, als das Erzielen eigener Treffer. Oder wie Huub Stevens sagt: „Die Null muss stehen.“

Das ist eine kurze Episode aus „The Numbers Game“ der beiden Ökonomie- und Soziologieprofessoren Chris Anderson und David Sally. Sport und Statistik – da kommt vielen sofort Billy Beane mit Moneyball in den Sinn. Anderson und Sally übertragen die statistische Auswertung auf den Fußball. Sie beginnen bei den Anfängen der Statistik im Fußball mit Charles Reep um 1950, zeigen welche Fehler im Laufe der Zeit gemacht wurden („being comfortable with numbers isn’t the same as producing insights, though“) und werten zahlreiche Artikel und Aufsätze anderer Wissenschaftler aus.

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Copyright: Penguin Books

Der Ton des Buches ist dabei aber nicht akademisch trocken, sondern äußerst unterhaltsam. Beispielsweise bekommt bei der Darstellung der Real-Galacticos der frühen 2000er der Däne und Mittelfeldarbeiter Thomas Gravesen einen kleinen Seitenhieb ab.

Eine große Stärke von „The Numbers Game“ ist die weite Perspektive. Wo sich „The Nowhere Men“ auf den englischen Fußball beschränkte, ziehen Anderson/Sally immer wieder Parallelen zwischen den großen europäischen Fußballligen, vergleichen Entwicklungen einer Liga über mehrere Jahrzehnte, oder stellen Quervergleiche an zu anderen Sportarten wie American Football, Rugby, Basketball oder Handball. Zudem erleichtern sie das Verständnis komplexerer Darstellungen durch anschauliche Grafiken.

Fußball ist nicht, wie lange behauptet wurde, zu komplex, um statistisch analysiert zu werden. Das ist spätestens nach der Lektüre dieses Buches klar. Das Problem besteht nur noch darin, aus dem riesigen Datenberg, der im Profibereich für jedes Spiel erfasst wird, die richtigen Erkenntnisse zu ziehen. Die Vereine haben diesen Trend nach anfänglichem Zögern erkannt und ihr Trainerteam um Spiel- und Gegneranalysten erweitert. Einer der Vorreiter ist dabei, wohl auch durch die Nähe zur Deutschen Sporthochschule, der 1. FC Köln. Die Kölner beschäftigen drei Vollzeit- und 30 Teilzeitanalysten aus 15 Ländern für Profis, Amateure und die Jugendmannschaften.

Anderson und Sally schlagen einen deutlich versöhnlicheren Ton an als Michael Calvin in „The Nowhere Men“. Calvin beschreibt einen scharfen Kontrast und daraus resultierende Konflikte zwischen Scouts und den neumodischen Computertypen. Anderson/Sally sehen die Analyse als Erweiterung der Möglichkeiten von Trainern und Vereinsverantwortlichen zusätzlich zu den etablierten Systemen.

In der erweiterten Neuauflage von 2014 findet sich zusätzlich ein Kapitel zu Fußballweltmeisterschaften. Dort lernen wir beispielsweise, dass Mannschaften, die in der Vorrunde hohe Siege einfahren, eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, ins Halbfinale einzuziehen. Und bekommen Schritt für Schritt gezeigt, wie sich im 2010er Viertelfinale Ghanas Chancen auf den Halbfinaleinzug innerhalb weniger Minuten von fast 100 Prozent (Adiyiahs Kopfball Richtung Tor) über 75 Prozent (vor dem Elfmeter nach Suarez‘ Handspiel) auf 40 Prozent (vor Beginn des Elfmeterschießens, das Uruguay beginnt) verringern.

Wem Moneyball gefallen hat, der sollte dieses Buch lesen. Wem die Bücher von Malcolm Gladwell gefallen, der sollte dieses Buch lesen. Wer den modernen Fußball verstehen und einen Blick in die Zukunft wagen will, der sollte dieses Buch lesen.

Anderson, Chris und David Sally: The Numbers Game. Why Everything You Know About Football is Wrong. Penguin 2014 (2013). 400 Seiten.

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Deutsch (Übersetzung von Ronald Reng): Die Wahrheit liegt auf dem Platz. Warum (fast) alles, was wir über Fußball wissen, falsch ist. Rowohlt Taschenbuch 2014. 416 Seiten.

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