Open

Andre Agassi ist einer der besten Tennisspieler aller Zeiten. Und er hat Tennis immer gehasst. Seine Autobiografie stand seit ihrem Erscheinen auf meiner Leseliste. Jetzt bin ich endlich dazu gekommen. Und bin begeistert.

Die 90er waren in Deutschland wegen der großen Erfolge von Steffi Graf und Boris Becker das große Jahrzehnt des Tennis. Und wer sich für die Spiele von Becker interessierte, kam am amerikanischen Paradiesvogel Andre Agassi nicht vorbei. Wenige Spieler haben in der Geschichte des Tennis so polarisiert wie der Mann aus Las Vegas. Sein Kleidungsstil war auffällig bis provokativ, sein Spiel war nicht elegant, sondern voller Power. Sein bester Schlag war nicht der Auf-, sondern der Rückschlag.

Agassi, Tennis, Open
Copyright: Droemer Knaur

Vielleicht kam er deshalb auch im Leben mit Rückschlägen besser klar als viele andere. Denn Agassis Karriereweg war keineswegs geradlinig. Sein Vater drückte ihm schon mit drei Jahren einen Schläger in die Hand, baute auf dem Grundstück in der Wüste bei Las Vegas einen Tennisplatz, konstruierte eine Ballmaschine und ließ den kleinen Andre stundenlang Bälle schlagen. Der Junge hatte Talent und gewann schnell die ersten Turniere, was zu noch mehr Förderung führte und schließlich zum Umzug in die Bolletieri-Akademie. Dort war der jugendliche Andre Agassi noch unglücklicher als zuhause, fing an zu rebellieren und arbeitete intensiv an seinem Rauswurf. Gleichzeitig wurde aber auch sein Spiel immer besser. Mit 15 Jahren verließ er die Akademie wieder. Mit 17 gewann er sein erstes ATP-Turnier, mit 18 kam er bei zwei Grand Slam Turnieren ins Halbfinale. 1992 gewann er Wimbledon, 1994 die US Open, 1995 die Australian Open. Im gleichen Jahr wurde er auch die Nummer 1 der Weltrangliste.

Eine ernstere Verletzung am Handgelenk führte 1997 zu einem beispiellosen Abstieg. Von Schmerzen geplagt verlor Agassi Erstrundenmatch um Erstrundenmatch und fiel schließlich aus den Top 100 der Welt. Gleichzeitig war er bereits unglücklich mit der Schauspielerin Brooke Shields verheiratet. Er flüchtete sich in Alkohol und probierte sogar Crystal Meth, was zu einer positiven Dopingprobe führte. Nur mit der Lüge, aus dem Becher eines Freundes getrunken zu haben, konnte er eine Sperre und möglicherweise ein Karriereende verhindern. Die Beschreibung dieser Zeit gestaltet Agassi in „Open“ schonungslos gegen sich selbst. Wir bekommen den Menschen hinter der Fassade zu sehen, spüren seine innere Zerrissenheit. Diese Offenheit macht „Open“ zu einem echten Erlebnis. Dadurch gönnt man Agassi die späteren Erfolge und die Rückkehr an die Spitze noch mehr.

Auch die Psychologie hinter Spielen und Turnieren wurde für mich als Leser viel greifbarer. Agassi und Boris Becker konnten sich nicht ausstehen. Einmal schaffte es Becker, den Amerikaner mit dem Werfen von Handküssen in Richtung von Brooke Shields so aus dem Rhythmus zu bringen, dass dieser einen sicheren Vorsprung aus der Hand gab. Im Anschluss fokussierte sich Agassi wochenlang nur auf seine Rache und die Möglichkeit, es Becker heimzahlen zu können.

Das Werben um die Gunst seiner heutigen Frau Steffi Graf schildert Agassi ebenfalls ausführlich. Er fing sich mehr als nur einen Korb von der „Gräfin“ ein, bis sie schließlich einem Date zustimmte. Mein persönliches Highlight in diesem Bereich des Buches ist das erste Aufeinandertreffen von Agassis Vater Emmanuel mit Peter Graf, das fast in einem Boxkampf der beiden knapp 70jährigen Männer endet.

Agassis Buch sticht aus der Masse der Sportlerbiografien deutlich hervor. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, ergeht sich nicht in Floskeln und hat einfach eine bewegende Geschichte zu erzählen. Ein tolles Buch von einer faszinierenden Person.

Ich habe das leicht gekürzte Audiobuch gehört (7h 13min Spielzeit). Erzähler Heikko Deutschmann macht fast ein Hörspiel draus und hat mich wirklich in die Geschichte versetzt. Eine absolute Empfehlung.

Agassi, Andre: Open. Das Selbstporträt. Droemer HC 2009. 608 Seiten.

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Socrates vs. NoSports

Gleich zwei neue Sportmagazine sind in den letzten Wochen auf den deutschsprachigen Markt gekommen. Worin unterscheiden sich „Socrates“ und „NoSports“? Wenn ich nur eines kaufen sollte, welches wäre das?

Vorab das Zahlenwerk: Socrates erscheint monatlich, hat 116 Seiten und kostet 5,80 Euro. NoSports erscheint alle zwei Monate, hat 140 Seiten und kostet 6,80 Euro. Bevor ich in die Details einsteige, möchte ich zunächst den Mut der Macher begrüßen, mit neuen Magazinen an den Start zu gehen, die mehr zu bieten haben, als Fußball, Fußball, Fußball. Auch wenn uns vom Socrates-Cover Jürgen Klopp anschaut:

Titelbilder NoSports und Socrates
Jetzt am Kiosk: NoSports mit Dennis Schröder auf dem Titel und Socrates mit Jürgen Klopp.

Für die erste Ausgabe wollte die Socrates-Redaktion wahrscheinlich auf Nummer sicher gehen und hat sich deshalb für den Liverpool-Coach entschieden. NoSports setzte für Ausgabe No 1 auf Boris Becker. Diesmal trauen sie sich mit Basketballer Dennis Schröder (eingerahmt seinen Teamkollegen Paul Millsap und Dwight Howard) an ein unbekannteres Gesicht.

Die Titel verraten damit schon einen gravierenden Unterschied zwischen den beiden Magazinen. Während NoSports auch NoFootball heißen könnte, enthält Socrates einige Artikel über Fußballspieler und -trainer. Der Unterschied ist leicht zu erklären, denn NoSports ist das Schwesterblatt der etablierten Fußballzeitschrift 11Freunde und wird von der selben Redaktion gemacht. Socrates dagegen ist eigenständig, kommt aber auch nicht aus dem Nichts. Die Sportzeitschrift wurde vor knapp zwei Jahren in der Türkei gegründet und konnte sich dort schnell etablieren. Deutschland ist der erste Auslandsmarkt, den das Magazin erobern soll. Weitere sind schon in Planung.

Der NoSports merkt man im Artwork und Aufbau die Verwandtschaft zu 11Freunde an. Kleine Geschichten, ein lustiger Ticker und ein paar außergewöhnliche Fotos auf den ersten Seiten, dann die Kolumne eines ehemaligen Trainers. Statt Hans Meyer hier Ulli Wegner. Dann folgen die größeren Geschichten: die Titelgeschichte zu Dennis Schröder, eine Aufzählung der größten Rivalitäten der kommenden Wintersportsaison, eine Fotoreportage zu Bodybuildern, ein Porträt des Schachweltmeisters Magnus Carlsen usw. Weitere Sportarten, die in Heft No 2 enthalten sind: Rallye, Boxen, Radsport, Skateboarding, Eishockey, Snooker, Ski Alpin, Speedway. Den Abschluss bildet ein längeres Interview mit einem ehemaligen Sportstar. In Ausgabe Eins war das Jürgen Hingsen, diesmal Jens Weißflog. Dazu sind im Heft verschiedene Kolumnen verteilt: „Ein Leben in Zitaten“, „Lernen von den Profis“, „Vorher – Nachher“, „Praxistest“. Insgesamt eine sehr schöne Bandbreite, auch wenn man einigen Geschichten anmerkt, dass der Protagonist ein neues Produkt zu verkaufen hat (sogenannter „Wetten, dass…-Effekt“). Wer 11Freunde mag und sich für Sport jenseits des Fußballs interessiert, sollte NoSports auf jeden Fall testen.

Socrates versucht den Leser anzusprechen, „für den nicht das Ergebnis wichtig ist, sondern die Geschichte. Nicht die Aktualität, sondern die Nachhaltigkeit. Nicht das Geschlecht oder die Herkunft, sondern die Faszination.“ Titelgeschichte des deutschen Erstlings ist das „Game of Bosses“, eine Porträtserie über die Trainer der Meisterschaftsanwärter der englischen Premier League. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Interviews mit den Coaches der drei Topteams der deutschen Basketballliga. Weitere behandelte Sportarten sind Speerwurf, Radsport, Tennis, Baseball, Handball, Golf. Besonders ist die Zahl an Gastautoren, die Socrates gewinnen konnte: die (ehemaligen) Fußballer Nuri Sahin, Andreas Görlitz und Andreas Beck, sowie Schriftsteller Moritz Rinke. Das Artwork von Socrates setzt neben eingefärbten Fotos auf Zeichnungen, die mit philosophischen Sprüchen angereichert neben passenden Geschichten stehen. Beispielsweise steht eine Zeichnung von Steffi Graf mit einem Zitat von Rudyard Kipling („Wahre Größe beweist nur, wer Triumph und Niederlage gleich behandelt.“; steht auch im Spielertunnel von Wimbledon) neben einem Interview mit Angelique Kerber. Ich habe etwas mit der sehr kleinen Schrift im Magazin gehadert, da dürfen die Macher gerne nachjustieren. Außerdem hätte ich mir besonders zu den Interviews kleine Infokästen gewünscht, die mir etwas Hintergrund vermitteln. Ich bin zwar interessiert am Basketball, konnte den Ausführungen der Trainer aber nicht durchgehend folgen. Das Potential von Socrates zeigt sich vielleicht am besten im Interview mit Julian Nagelsmann. Das sollte für künftige Ausgaben die Richtschnur sein, dann ist Socrates sicher ein starker Player auf dem Markt für Sportmagazine.

Mein Fazit: Momentan hat NoSports leicht die Nase vorne, einen Testkauf ist aber auch Socrates allemal wert. Für mehr Vielfalt in der deutschen Sportberichterstattung.

The Illustrated History of Football (eng)

Do you like football? Intelligent humor? And you don’t avoid comic books by any means? This is your book.

David Squires might be known to you from his weekly column in the Guardian, where he is commenting on recent events in football. Most of the times it is really funny. Now Squires turned his attention to the history of the beautiful game for his first book. The result is magnificent.

Squires: The Illustrated History of Football
Copyright: Century

Squires begins at the game’s origins, gives a couple of pages to the Victorian time and spends most pages on the events beginning with the first World Cup. Almost every chapter contains little jokes of some sorts, e.g. a newfangled standing desk for the pundints of the first game between England and Scotland. These little jokes, that sometimes turn into running gags over several chapters, are what makes the book so special. That’s why I won’t spoiler too many of them.

The chapters are made up of an introductory text and the respective comic strip. Texts and words in the comic strips are laughing-out-loud funny. For instance, talking about the invention of shirt sponsorship, FC Barcelona is credited for resisting this trend and  „years later Barcelona still only wear the logos of a global sports corporation, Qatar’s state airline and a manufacturer of washing machines“ (p. 147).

And then you also have pop-cultural allusions. In the chapter on Italy vs. Brasil in 1982 we can find uncle Junior from the Sopranos, and Inter’s  Giacinto Facchetti stars as Jack Torrance from The Shining due to Hellenio Herrera.

I give much credit to David Squires for paying tribute to Andres Escobar, former captain of Columbia who was murdered after the ’94 World Cup. In general Squires shows a political and critical attitude towards football.  Fifa and FA are beeing mocked several times, the doubts concerning World Cup wins of Italy ’34, Germany ’54 and Argentina ’78 are addressed. Wladimir Putin features in the book as well as Angela Merkel, Boris Johnson and Kim Jung-Un.

So, is there nothing to criticize about the book? Well, not really. I as a German did probably not understand every allusion, but if that’s all, we are talking about, I could not be happier. And British readers won’t have this problem anyway.

Hopefully many football fans will get this book as Christmas gifts. *spoiler alert* My friends can look forward to the end of December.

Squires, David: The Illustrated History of Football. Century 2016. 208 pages.

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I requested and received a review copy from the publisher.

# On the title: Pelé, Johan Cruff, Sir Alex Ferguson, Franz Beckenbauer, a generic Victorian player, Lev Yashin (standing, from left to right), a Stone Age man, Ferenc Puskas, Diego Maradona, Cristiano Ronaldo, Lionel Messi.

The Illustrated History of Football

Ihr mögt Fußball? Und intelligenten Humor? Und vor Comics lauft ihr auch nicht gleich weg? Dann ist das genau euer Buch.

David Squires zeichnet einmal in der Woche eine Kolumne für den Guardian, in der er aktuelle Ereignisse im Fußball kommentiert. Das ist meistens sehr komisch. Jetzt hat Squires sich für sein erstes Buch die Geschichte des Fußballs vorgenommen. Das Ergebnis ist großartig.

Squires: The Illustrated History of Football
Copyright: Century

Squires beginnt bei den Ursprüngen des Spiels, widmet sich auf einigen Seiten den viktorianischen Anfängen des neuzeitlichen Spiels und räumt den Ereignissen seit Erfindung der Weltmeisterschaften viel Platz ein. Dabei baut er in fast jedes Kapitel kleine Witze ein, etwa ein neumodisches Stehpult bei den Moderatoren des ersten Länderspiels zwischen England und Schottland. Diese kleinen Späße, gerne auch als wiederkehrende Anspielungen in unterschiedlichen Kapiteln, machen den Reiz des Buches aus, weswegen ich nicht zu viele vorab verraten möchte.

Die Kapitel sind stets zweigeteilt in einen kurzen Einführungstext und den dazugehörigen Comic. Texte und Sprachteile im Comic sind voll beißendem englischen Humor. Wenn es beispielsweise um die Einführung von Trikotwerbung geht, wird Barcelona hervorgehoben, die sich diesem Trend widersetzten und „years later (…) still only wear the logos of a global sports corporation, Qatar’s state airline and a manufacturer of washing machines“ (S. 147).

Dazu kommen popkulturelle Anspielungen. Beispielsweise taucht im Kapitel zum WM-Spiel Italien – Brasilien 1982 Onkel Junior aus den Sopranos auf, und Inter-Spieler Giacinto Facchetti hat einen Gastauftritt als Jack Torrance aus The Shining.

Ich rechne es David Squires hoch an, dass er bei allem Spaß auch ein Kapitel der Ermordung von Kolumbiens Kapitän Andres Escobar im Anschluss an das Ausscheiden bei der WM ’94 widmet. Allgemein ist Squires durchaus politisch und kritisch gegenüber dem Fußball. Die Fifa wird verspottet, die Zweifel rund um die WM-Siege von Italien ’34, Deutschland ’54 und Argentinien ’78 werden angesprochen. Wladimir Putin taucht genauso auf wie Angela Merkel, Boris Johnson und Kim Jung-Un.

Gibt es gar nichts zu kritisieren an diesem Fußballbuch? Eigentlich nicht. Allerhöchstens den leichten Schwerpunkt auf den englischen Fußball, der mir ein paar Anspielungen unverständlich machte. Auf so hohem Niveau habe ich in Bezug auf Bücher lange nicht geklagt.

Dieses Buch wird in diesem Jahr zurecht bei vielen Fußballfans unter dem Tannenbaum liegen. Meine Freunde zumindest *Achtung, Spoiler* können sich freuen.

Squires, David: The Illustrated History of Football. Century 2016. 208 Seiten.

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Der Verlag hat mir auf Anfrage ein Exemplar zur Verfügung gestellt.

# Auf dem Titelbild: Pelé, Johan Cruff, Sir Alex Ferguson, Franz Beckenbauer, ein generischer viktorianischer Spieler, Lew Jaschin (oben v.l.), ein Steinzeitmensch, Ferenc Puskas, Diego Maradona, Cristiano Ronaldo, Lionel Messi.

Das Spiel ist aus

Wahrscheinlich hatte ich zu hohe Erwartungen. Ich sah Schweinsteiger auf dem Titel, nach dem verlorenen „Finale dahoam“. Beim Reinblättern landete ich bei einer Geschichte über Rolf Töpperwien, den ich als Person immer schon skurril-interessant fand. Und mir war noch Tobias Eschers Satz im Ohr, dass er Verlierer interessanter findet als Gewinner. Deshalb habe ich „Das Spiel ist aus. Geschichten über das Verlieren“ von Holger Gertz beim Verlag angefragt.

Wie fast immer, wenn man sehr hohe Erwartungen hat, können diese fast nur enttäuscht werden. Holger Gertz ist Journalist für die Süddeutsche Zeitung und schreibt tolle Reportagen. Auch in „Das Spiel ist aus“ finden sich sehr schöne Geschichten. Zum Beispiel die über Töpperwien, den aus der Zeit gefallenen ZDF-Mann, die gleichzeitig eine Anklage gegen den Sender und seine zunehmende Verkumpelung mit den Sportlern ist.

Gertz: Das Spiel ist aus
Copyright: Verlag

Sehr bewegend fand ich die Geschichte zweier kanadischer Sportler, die am Vorabend des Olympia-Attentates von München 1972 mit einer Gruppe erst spätabends ins olympische Dorf zurückkehrten, deshalb über den Zaun steigen mussten und dabei wahrscheinlich den palästinensischen Attentätern begegneten, die sich ebenfalls Zutritt zum Dorf verschafften. Eine Sportlerin fühlt sich deshalb noch heute mitschuldig am Tod der israelischen Sportler. Ihr Teamkollege hat die Ereignisse fast unmittelbar verdrängt. Gertz fängt die Stimmung der beiden sehr gefühlvoll ein. Das gelingt ihm auch bei der Erzählung um Nancy Glickman, die 2015 zu den European Maccabi Games nach Berlin reist. In die Stadt, in der ihrem Vater bei den olympischen Spielen 1936 der größte Erfolg seiner Laufbahn als Sprinter verwehrt wurde. Marty Glickman war als Läufer für das 4 x 100 m-Finale vorgesehen. Jesse Owens sollte und wollte angesichts seiner bereits drei Goldmedaillen den Platz im Quartett räumen. Eine Niederlage gegen den jüdischen Sprinter Glickman wollten die amerikanischen Teamverantwortlichen dann aber offenbar den nationalsozialistischen Gastgebern nicht zumuten und strichen ihn und einen weiteren jüdischen Läufer am Tag vor dem Finale aus dem schließlich siegreichen Team.

Ganz toll hat mir auch das Kapitel gefallen, das zur Fußball-WM 2006 in Celle spielt. Die niedersächsische Stadt beheimatete in der Zeit den WM-Neuling Angola. Gertz fängt anschaulich die Stimmung in der Stadt ein, die das afrikanische Team gewissermaßen adoptiert. Er erzählt, wie sich die Celler um die Beherbergung einer Mannschaft bemüht hatten und zeigt, wie sie die Angolaner unterstützt haben. Bei mir hat die Geschichte sofort die Frage aufgeworfen, wie das wohl in Zweiflingen, Bad Kissingen oder Niederkassel war. Kann da nicht mal jemand nachfragen?

Die Geschichte der angolanischen Mannschaft bringt für mich aber auch das große Problem des Buches von Holger Gertz auf den Punkt, denn ich kann darin beim besten Willen keine Verlierer erkennen. Klar, Angola muss nach der Vorrunde ohne Sieg abreisen. Die Mannschaft hat aber als WM-Neuling auch nur eines von drei Spielen verloren. Für ein Land, dass erst kurz vorher einen dreißig Jahre dauernden Bürgerkrieg beenden konnte, ist schon die Teilnahme mehr als respektabel.

Auch in anderen Kapiteln ist meiner Meinung nach der Bezug zu Niederlagen oder Verlierern stark konstruiert. Wenn etwa Marcel Reif zu einem Kommentatorentraining nach Nordkorea begleitet wird, ist die Bevölkerung des kommunistischen Staates sicherlich arm dran. Ihre Situation lässt sich aber nicht auf zehn Seiten erzählen, die zudem Reif in den Mittelpunkt rücken. Auch die Beschreibung des Sachsenhauses bei den Olympischen Winterspielen von Turin als emanzipatorische Abgrenzung zum traditionellen Deutschlandhaus liest sich zwar gut und etwas schnurrig, lässt mich aber keinen Verlierer erkennen.

Andere Geschichten sind schlicht veraltet. Gertz hat Lothar Matthäus zu Beginn seiner Tätigkeit bei Partizan Belgrad besucht. Das war in 2003. In der anschließenden Dekade hat sich bei Matthäus zu viel getan, als dass die Erzählung noch Relevanz hätte. Gleiches gilt für Borussia Dortmund, die 1997 zwar kurz vor dem Exodus standen, knapp 20 Jahre und drei Meistertitel später aber längst wieder zur wirtschaftlichen Elite des deutschen Fußballs zählen. Auch der Comeback-Kampf des 43-jährigen Henry Maske müsste heute anders erzählt, vielleicht besser eingebettet werden.

Da liegt vielleicht das Grundproblem des Buches. Gertz hat nämlich nicht neue Geschichten geschrieben, sondern bis auf Einleitung, ein kurzes Zwischenkapitel und den Schluss alte Reportagen aus der Süddeutschen Zeitung verwendet. Das ist natürlich legitim und einige der Geschichten haben es auf jeden Fall verdient, noch einmal gelesen zu werden. Ich hatte das einfach nicht erwartet und war deshalb etwas enttäuscht.

Insgesamt fehlt mir in „Das Spiel ist aus“ der rote Faden. Das Thema des Buches verspricht tolle Geschichten. Etwa über Raymond Poulidor, den ewigen Tour de France Zweiten. Oder die Unterschiede zwischen den Triple-Zweiten aus Leverkusen 2001 und München 2011. Oder Dirk Nowitzki 2006. Oder auch etwas zu Bayer Uerdingen, die als Verlierer der Umstrukturierungen der Sportförderung des Bayer Konzerns heute als KFC Uerdingen in der Oberliga spielen. Und bestimmt fänden sich noch viele weitere. So bleibt es ein Buch der verpassten Chancen. Einen Blick lohnt es dennoch.

Gertz, Holger: Das Spiel ist aus. Geschichten über das Verlieren. DVA 2016. 240 Seiten.

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Das Buch wurde mir auf Anfrage vom Verlag zur Verfügung gestellt.