Das Spiel ist aus

Wahrscheinlich hatte ich zu hohe Erwartungen. Ich sah Schweinsteiger auf dem Titel, nach dem verlorenen „Finale dahoam“. Beim Reinblättern landete ich bei einer Geschichte über Rolf Töpperwien, den ich als Person immer schon skurril-interessant fand. Und mir war noch Tobias Eschers Satz im Ohr, dass er Verlierer interessanter findet als Gewinner. Deshalb habe ich „Das Spiel ist aus. Geschichten über das Verlieren“ von Holger Gertz beim Verlag angefragt.

Wie fast immer, wenn man sehr hohe Erwartungen hat, können diese fast nur enttäuscht werden. Holger Gertz ist Journalist für die Süddeutsche Zeitung und schreibt tolle Reportagen. Auch in „Das Spiel ist aus“ finden sich sehr schöne Geschichten. Zum Beispiel die über Töpperwien, den aus der Zeit gefallenen ZDF-Mann, die gleichzeitig eine Anklage gegen den Sender und seine zunehmende Verkumpelung mit den Sportlern ist.

Gertz: Das Spiel ist aus
Copyright: Verlag

Sehr bewegend fand ich die Geschichte zweier kanadischer Sportler, die am Vorabend des Olympia-Attentates von München 1972 mit einer Gruppe erst spätabends ins olympische Dorf zurückkehrten, deshalb über den Zaun steigen mussten und dabei wahrscheinlich den palästinensischen Attentätern begegneten, die sich ebenfalls Zutritt zum Dorf verschafften. Eine Sportlerin fühlt sich deshalb noch heute mitschuldig am Tod der israelischen Sportler. Ihr Teamkollege hat die Ereignisse fast unmittelbar verdrängt. Gertz fängt die Stimmung der beiden sehr gefühlvoll ein. Das gelingt ihm auch bei der Erzählung um Nancy Glickman, die 2015 zu den European Maccabi Games nach Berlin reist. In die Stadt, in der ihrem Vater bei den olympischen Spielen 1936 der größte Erfolg seiner Laufbahn als Sprinter verwehrt wurde. Marty Glickman war als Läufer für das 4 x 100 m-Finale vorgesehen. Jesse Owens sollte und wollte angesichts seiner bereits drei Goldmedaillen den Platz im Quartett räumen. Eine Niederlage gegen den jüdischen Sprinter Glickman wollten die amerikanischen Teamverantwortlichen dann aber offenbar den nationalsozialistischen Gastgebern nicht zumuten und strichen ihn und einen weiteren jüdischen Läufer am Tag vor dem Finale aus dem schließlich siegreichen Team.

Ganz toll hat mir auch das Kapitel gefallen, das zur Fußball-WM 2006 in Celle spielt. Die niedersächsische Stadt beheimatete in der Zeit den WM-Neuling Angola. Gertz fängt anschaulich die Stimmung in der Stadt ein, die das afrikanische Team gewissermaßen adoptiert. Er erzählt, wie sich die Celler um die Beherbergung einer Mannschaft bemüht hatten und zeigt, wie sie die Angolaner unterstützt haben. Bei mir hat die Geschichte sofort die Frage aufgeworfen, wie das wohl in Zweiflingen, Bad Kissingen oder Niederkassel war. Kann da nicht mal jemand nachfragen?

Die Geschichte der angolanischen Mannschaft bringt für mich aber auch das große Problem des Buches von Holger Gertz auf den Punkt, denn ich kann darin beim besten Willen keine Verlierer erkennen. Klar, Angola muss nach der Vorrunde ohne Sieg abreisen. Die Mannschaft hat aber als WM-Neuling auch nur eines von drei Spielen verloren. Für ein Land, dass erst kurz vorher einen dreißig Jahre dauernden Bürgerkrieg beenden konnte, ist schon die Teilnahme mehr als respektabel.

Auch in anderen Kapiteln ist meiner Meinung nach der Bezug zu Niederlagen oder Verlierern stark konstruiert. Wenn etwa Marcel Reif zu einem Kommentatorentraining nach Nordkorea begleitet wird, ist die Bevölkerung des kommunistischen Staates sicherlich arm dran. Ihre Situation lässt sich aber nicht auf zehn Seiten erzählen, die zudem Reif in den Mittelpunkt rücken. Auch die Beschreibung des Sachsenhauses bei den Olympischen Winterspielen von Turin als emanzipatorische Abgrenzung zum traditionellen Deutschlandhaus liest sich zwar gut und etwas schnurrig, lässt mich aber keinen Verlierer erkennen.

Andere Geschichten sind schlicht veraltet. Gertz hat Lothar Matthäus zu Beginn seiner Tätigkeit bei Partizan Belgrad besucht. Das war in 2003. In der anschließenden Dekade hat sich bei Matthäus zu viel getan, als dass die Erzählung noch Relevanz hätte. Gleiches gilt für Borussia Dortmund, die 1997 zwar kurz vor dem Exodus standen, knapp 20 Jahre und drei Meistertitel später aber längst wieder zur wirtschaftlichen Elite des deutschen Fußballs zählen. Auch der Comeback-Kampf des 43-jährigen Henry Maske müsste heute anders erzählt, vielleicht besser eingebettet werden.

Da liegt vielleicht das Grundproblem des Buches. Gertz hat nämlich nicht neue Geschichten geschrieben, sondern bis auf Einleitung, ein kurzes Zwischenkapitel und den Schluss alte Reportagen aus der Süddeutschen Zeitung verwendet. Das ist natürlich legitim und einige der Geschichten haben es auf jeden Fall verdient, noch einmal gelesen zu werden. Ich hatte das einfach nicht erwartet und war deshalb etwas enttäuscht.

Insgesamt fehlt mir in „Das Spiel ist aus“ der rote Faden. Das Thema des Buches verspricht tolle Geschichten. Etwa über Raymond Poulidor, den ewigen Tour de France Zweiten. Oder die Unterschiede zwischen den Triple-Zweiten aus Leverkusen 2001 und München 2011. Oder Dirk Nowitzki 2006. Oder auch etwas zu Bayer Uerdingen, die als Verlierer der Umstrukturierungen der Sportförderung des Bayer Konzerns heute als KFC Uerdingen in der Oberliga spielen. Und bestimmt fänden sich noch viele weitere. So bleibt es ein Buch der verpassten Chancen. Einen Blick lohnt es dennoch.

Gertz, Holger: Das Spiel ist aus. Geschichten über das Verlieren. DVA 2016. 240 Seiten.

Das Spiel ist aus bei Amazon kaufen.

Das Buch wurde mir auf Anfrage vom Verlag zur Verfügung gestellt.

Fire in Babylon

Cricket. Die Westindischen Inseln. Die englische Klassengesellschaft. Rassismus in Australien. Der Umgang mit dem südafrikanischen Apartheidsregime und denen, die gegen den Boykott verstießen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so viel aus einem Buch gelernt habe.

Allerdings habe ich auch lange nicht mehr so mit einem Buch zu kämpfen gehabt. Lesen über Cricket ist so, als ob man mit dem schwächeren Arm einen Schlagball werfen will. Grundsätzlich ist da schon so eine Ahnung, was passieren sollte. Praktisch aber kann man sich nicht auf jahrelang trainierte Abläufe und Instinkte verlassen. Konkret wusste ich von Cricket nur, dass es im britischen Commonwealth sehr beliebt ist und entfernt dem amerikanischen Baseball ähnelt. Begriffe wie „Bowler“, „Wicket“ oder „Over“ ließen sich mal mehr, mal weniger gut erschließen, weshalb ich nach etwa einem Viertel des Buches erstmal Erklärvideos zu den Cricketregeln geschaut habe. Dieses und dieses zum Beispiel.

Copyright: Yellow Jersey Press.
Copyright: Yellow Jersey Press.

Das Buch handelt vom Cricketteam der Westindischen Inseln, oder West Indies. Das sind zurzeit 15 karibische Staaten, sowie britische und nicht-britische Überseeterritorien, bspw. Jamaica, Antigua, Montserrat und Sint Maarten. Diese bilden zusammen eine  sogenannte „Test Cricket Mannschaft“, was in anderen Sportarten der Nationalmannschaft entspricht. Solche „Übersetzungen“ erforderte die Lektüre übrigens öfter. Das Lesegefühl war wie in einer Fremdsprache, die ich immer wieder in die „Muttersprache Fußball“ übersetzen musste.

Beleuchtet wird fast die gesamte Geschichte der West Indies Mannschaft seit dem ersten Test Match 1928. Der Fokus liegt aber auf dem Aufstieg zur weltbesten Mannschaft Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre. In den 1980ern sind die West Indies weltweit dominierend. Wendepunkt für die Abkehr von einem lockeren „Calypsostil“ sind Niederlagen gegen Australien und Indien Anfang der 1970er. Besonders die Serie gegen Australien führt den Spielern der Westindischen Inseln vor Augen, dass andere Mannschaften professioneller und stärker auf den Sieg fokussiert sind. Sie stellen daraufhin ihr Spiel um und setzen vier anstatt zwei „fast bowler“ ein. „Bowler“ sind die Wurfmänner, die den Ball ins Spiel bringen. Als „fast bowler“ werden Spieler bezeichnet, die den Ball auf etwa 150 km/h beschleunigen. Dieses Tempo gibt dem ca. 18 Meter entfernt stehenden Schlagmann große Probleme, den Ball zu treffen oder auszuweichen, falls der Ball auf seinen Körper kommt. „Fast bowling“ galt und gilt, nicht zuletzt in Verbindung mit hoch abspringenden Aufsetzern, als gefährlich und einschüchternd. Eine Verletzung des Schlagmanns wurde billigend in Kauf genommen. Für die West Indies wurde „fast bowling“ zum prägenden Stilmittel. Beispielhaft dieses Video zu Malcolm Marshall.

Es waren aber weniger die spielspezifischen Entwicklungen, die mir an „Fire in Babylon“ am besten gefallen haben. Mich hat die politische Reichweite beeindruckt, die Cricket in der Karibik hatte. Der Sieg der West Indies 1950 in England etwa gilt als wichtiger Schritt auf dem Weg zur Unabhängigkeit dieser Staaten, die bspw. Jamaika 1962 erlangte. Kapitän des Test Cricket Teams galt als „the most esteemed job in the whole Carribean“. Für große Kontroversen sorgte 1983 die Teilnahme einer westindischen Mannschaft an Einladungsspielen in Südafrika. Südafrika wurde zu der Zeit wegen der Apartheid sportlich boykottiert. Einige Spieler ließen sich dennoch mit hohen Geldsummen anwerben. Sie bezahlten den Bruch des Boykotts mit einer lebenslangen Spielsperre durch den westindischen Verband und sozialer Ächtung in der Heimat.

Fire in Babylon ist sicherlich ein forderndes Buch. Aber auch ein sehr lohnendes. Es erweitert den eigenen (Sport)horizont und bringt einem den Lieblingssport von etwa 2 Milliarden Menschen näher.

Lister, Simon: Fire in Babylon. How the West Indies Cricket Team Brought a People to its Feet. Yellow Jersey 2015. 352 Seiten.

Fire in Babylon bei Amazon kaufen.

Das Buch basiert auf einem Film gleichen Namens von Stevan Riley. Den gibt es bei Amazon uk.

Fußballprofi – wirklich ein Traumjob?

Fußball ist in Deutschland Sportart Nummer 1. Millionen Mädchen und Jungen treten schon im Kleinkindalter an den Ball. Irgendwann gehen sie vielleicht in einen Verein und trainieren regelmäßig. Sie werden besser und fangen an zu träumen. Von vollen Stadien. Von der großen Karriere. Doch wie realistisch ist die eigentlich? Ab wann hat man es geschafft? Zur Beantwortung dieser Fragen habe ich mehrere Bücher gelesen und empfehle zusätzlich eine Zeitungsserie sowie einen Film.

Realistische Hoffnung auf eine Karriere als Profifußballer kann man sich machen, wenn man bei einem großen Verein in eine Jugendmannschaft aufgenommen wird. Für Fritz Engel war das in der D-Jugend der Fall. Er war in seiner ersten Mannschaft der überragende Spieler und konnte sich dort nicht weiterentwickeln. Da kam das Angebot von Hertha BSC genau passend. Im neuen Umfeld mit den leistungsstärkeren Mitspielern entwickelte Fritz sich prächtig, hatte mehr Spaß am Spiel als je zuvor. Irgendwann setzt ihn sein Trainer nicht mehr im Sturm ein, sondern schult Fritz zum Verteidiger um. Eine Verletzung und ein neuer Trainer bringen in der B-Jugend dann den Traum von der Bundesliga zum Kippen. Die großen Anstrengungen, die Fritz für die Doppelbelastung aus wieder gesund werden und Abitur ablegen auf sich nimmt, sehen die Verantwortlichen nicht. Plötzlich spielt Fritz in den Planungen des Trainers und dann auch des Vereins keine Rolle mehr. Er wird nicht in die nächste Saison übernommen und muss sich einen neuen Verein suchen. Ein Jahr spielt er noch zwei Ligen tiefer in Berlin, dann geht er mit einem Fußballstipendium an ein College in Florida.

Das Buch von Fritz‘ Eltern schildert die Fußballbegeisterung aus der Sicht der Mutter. Sie nimmt uns mit dem kleinen Fritz und seinem Ball mit auf den Spielplatz, auf den Weg zur Kita, zum ersten Vereinstraining und zu den Spielen. Ursula Engel hatte mit Fußball nicht viel am Hut, bevor ihr Sohn sich schon im Krabbelalter als leidenschaftlicher Kicker erwies. Durch Fritz‘ Vereinseintritt findet sie sich am Wochenende plötzlich auf zugigen Plätzen inmitten der anderen Eltern wieder, fährt im Winter mit zu Hallenturnieren und organisiert das eigene Leben rund um Schule und Hobby ihres Sohnes (und ihrer beiden Töchter) herum. Im privaten Umfeld muss sie gegen das Klischee der dummen Fußballer ankämpfen und sich rechtfertigen, warum ihr Sohn nicht etwa ein Musikinstrument lernt. Das Buch ist ein Gewinn für Eltern, die bei ihren Kindern Leidenschaften entdecken, und ein Muss für Eltern von Fußballern im Leistungsbereich.

978-3-499-60348-8
Copyright: Rowohlt

Mama, Papa, ich werd‘ Fußballprofi bei Amazon kaufen.

Aufmerksam geworden auf das Buch von Ursula Engel und Bernd Ulrich bin ich durch eine Langzeitreportage von Michael Horeni in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Er hat Fritz Engel und seinen Teamkollegen Bilal Kamarieh knapp sechs Jahre lang begleitet und insgesamt zehn Artikel über ihren Werdegang von der U13 bis zur U19 geschrieben. Wir erleben mit, wie Fritz vom Stürmer zum Verteidiger umgeschult wird. Wie er den Verein verlassen muss, ein Studium beginnt und in die USA ans College wechselt. Und wir lernen Bilal kennen, der ebenfalls Stürmer ist, bald eine Einladung zur Jugendnationalmannschaft erhält und kurz darauf auch einen Berater und einen Ausrüstervertrag hat. Als er dann sogar einen Jahrgang überspringen darf, geht dem Jungen wohl etwas die Bodenhaftung verloren. Er kommt mit dem Trainer nicht zurecht und wird wieder in seinen Jahrgang versetzt. Schließlich verlässt er Hertha, um seiner Karriere anderswo einen neuen Schub zu geben.

Als Einstieg ist die Serie toll, das Buch der Eltern von Fritz setzt einen spannenden Kontrast und vermittelt die ergänzende Innenansicht.

Hier geht es zum FAZ-Archiv der Serie „Bilal und Fritz“ und hier zur letzten Folge (die im Archiv nicht verlinkt ist).

Der Übergang vom Jugend- zum Männerfußball wird stets als besonders kritische Phase beschrieben. Die Situation hat sich noch verschärft dadurch, dass zahlreiche Profivereine ihre Amateurmannschaften vom Spielbetrieb abgemeldet haben. So fehlt Talenten die bislang nicht selten genutzte Möglichkeit, zumindest zeitweise mit den Profis zu trainieren und bei den Amateuren Spielpraxis zu sammeln. Zwei Arten von Vereinen könnten von dieser neuen Situation profitieren. Zum einen Vereine der dritten und zweiten Liga, die von talentierten Jugendlichen wegen der erwarteten höheren Spielanteile als Karriereschritt und Sprungbrett genutzt werden. Aber auch Erst- und Zweitligisten, die in der dritten und vierten Liga nach solchen Spielern scouten, die im Jugendbereich eine gute Ausbildung genossen, den direkten Sprung in einen Profikader verpasst und ein oder zwei Saisons später die entsprechenden Entwicklungsschritte nachgeholt haben.

Timo Heinze ist ein Spieler, der den Sprung vom hochgelobten Jugend- zum Bundesligaspieler nicht geschafft hat. Dabei hatte er beste Voraussetzungen, spielte schon in der Jugend beim FC Bayern, war Jugendnationalspieler und später Kapitän der Bayern-Amateurmannschaft. Dann aber kam das plötzliche Aus. Seinen Abschied vom Leistungssport hat Heinze in „Nachspielzeit. Eine unvollendete Fußballkariere“ verarbeitet.

Copyright: Rowohlt
Copyright: Rowohlt

Geschrieben hat Heinze das Buch auf einer Reise nach Bali. Daher liest es sich wie ein Tagebuch, in dem sich Kapitel über seine Reiseerlebnisse abwechseln mit solchen, in denen er sich an seiner Zeit als Fußballer erinnert. Für meinen Geschmack hätten die Bali-Kapitel ruhig gekürzt werden können. Das Erlebte findet sich ganz ähnlich auch in Schilderungen anderer Backpacker, die mit Anfang 20 in Südostasien unterwegs waren. Vielleicht hätten mich die Teile mehr angesprochen, wenn ich ähnliche Erfahrungen hätte. Die Fußball-Kapitel fand ich deutlich interessanter. Heinze berichtet, dass seine Mutter ob der Belastung zunächst skeptisch war, als der FC Bayern ihn mit zwölf Jahren für die Jugend verpflichten wollte, er sich aber nach einem Probetraining familienintern durchgesetzt hat und gewechselt ist. Im Anschluss durchlief er sämtliche Jugendteams, zunächst als Angreifer, später auf der rechten Seite und im defensiven Mittelfeld. Er registrierte früh, dass nicht alle Spieler automatisch in den nächsten Jahrgang übernommen werden, war selbst aber nie gefährdet. Folgerichtig landet er nach der Jugend bei den Bayern-Amateuren. Dort setzen ihn im ersten Jahr Schmerzen an den Leisten und schlecht verheilendes Narbengewebe nach der notwendigen Operation außer Gefecht. Mit großem Ehrgeiz kämpft Timo Heinze sich zurück. Eine komplette Saison braucht er, um sein altes Niveau wiederzuerlangen. Bereit, in der kommenden Saison voll anzugreifen und sich einen Stammplatz zu sichern, reißt er sich im ersten Training der neuen Saison die Syndesmose. Erst in der Rückrunde setzt er sich, auf neuer Position als Rechtsverteidiger, im Team fest. Für eine Perspektive im Profiteam des FC Bayern reicht es aber nicht mehr. Dafür hat ihn die Verletzung zu viel Entwicklungszeit gekostet. Mit 23 Jahren ist klar, dass er seinen auslaufenden Vertrag bei den Bayern nicht verlängern wird. Zur Rückrunde seiner letzten Saison wird er Kapitän der Mannschaft, hat ernsthafte Anfragen mehrerer Zweitligisten. Und findet sich nach einigen ordentlichen und zwei schwächeren Spielen auf der Bank wieder. Eine Erklärung von Trainer Hermann Gerland gibt es nicht, und auch kein zurück aufs Spielfeld, abgesehen von wenigen Minuten als Einwechselspieler. Von heute auf morgen ist Timo Heinzes Karriere beim FC Bayern beendet. Er versucht später in Unterhaching noch einen Neustart, doch der dortige Trainer Ralph Hasenhüttl steht nicht auf ihn und wollte ihn auch nicht verpflichten. Anschließend stellt Timo Heinze seine Fußballschuhe in den Schrank, fährt zum Abstand-Gewinnen nach Bali und beginnt ein Studium an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Heute spielt er Futsal.

Die wahre Stärke von Timo Heinzes Buch sind nicht die Schilderungen der einzelnen Trainings oder Spiele, sondern die spürbare Enttäuschung über sein plötzliches und unerwartetes Aus, die Einsamkeit nach einer Verletzung, wenn plötzlich kein Teamkollege mehr anruft, die Klarheit, mit der die Härte des Geschäftes hier greifbar wird. Junge, ambitionierte Spieler bekommen von Timo Heinze sehr klar vor Augen geführt, wie schnell der Traum von der Fußballkarriere vorbei sein kann.

Nachspielzeit bei Amazon kaufen.

Auch Bilal Kamarieh aus der FAZ-Serie steht gerade am Scheideweg. Er ist im letzten Jugendjahr von Hertha BSC zu Mainz 05 gewechselt. Dort lief es mit 23 Einsätzen in der A-Jugend Bundesliga in der Saison 2014/15 recht ordentlich. In der abgelaufenen Spielzeit 15/16, seiner ersten im Herrenbereich, kam er in der zweiten Mannschaft der Mainzer aber nur  auf 25 Spielminuten verteilt auf vier Einsätze. Bei noch einem Jahr Vertragslaufzeit könnte die nächste Saison schon darüber entscheiden, ob sich Bilal seinen Traum von der ersten Liga wird erfüllen können.

Und selbst wer es schafft und einen Kaderplatz in der ersten, zweiten oder dritten Liga ergattert, kann sich seiner Sache nicht sicher sein. Die derzeit 56 Nachwuchsleistungszentren bringen konservativ gerechnet jährlich 500 Spieler heraus, die sich auf freie oder noch besetzte Arbeitsplätze im Berufsfußball bewerben. Da wird es für einen Mittzwanziger, der in der zweiten Liga bislang so mitgeschwommen ist, schon mal eng. Trainer und Manager probieren es dann vielleicht lieber mit einem 18-Jährigen, der noch Entwicklungspotential hat, anstatt den Vertrag eines Durchschnittskickers zu verlängern.

Mehr zu dieser Problematik in meinem Kurzinterview mit VDV-Geschäftsführer Ulf Baranowsky hier.

Aljoscha Pause, Christian Micolajczak, Benjamin Schüssler, Nico Frommer
DVD Cover von Zweikämpfer

Den aussortierten Spielern, die nicht sofort einen neuen Verein finden, bietet die Spielergewerkschaft VDV ein eigenes Trainingscamp. Unter der Anleitung eines (ebenfalls arbeitslosen) Trainers wird eine Saisonvorbereitung simuliert, damit der Rückstand auf die arbeitenden Kollegen nicht zu groß wird und der Einstieg ins reguläre Mannschaftstraining bei einem Vertragsangebot möglichst reibungslos verläuft.

Der Filmemacher Mehdi Benhadj-Djilali durfte einen Sommer lang ganz nah ran an die Spieler des VDV Trainingscamps. Er begleitete die Mannschaft beim Training. Saß in der Kabine, als Trainer Christian Wück die Spieler in der Halbzeit einer Testpartie gegen einen Oberligisten zusammenstauchte. Und fuhr mit Christian Mikolajzcak und Benjamin Schüßler nach Vietnam, wo die beiden an Auswahltrainings teilnahmen. Sogar in die Familien namen einige Spieler den Regisseur mit.

Die Abgründe, die sich dabei auftun, sind teilweise erschreckend. Gestandene Bundesligaspieler finden in der dritten Liga keine Anstellung mehr. Wer mit Ende 20 aus der Rotation herausfällt, hat fast keine Chance auf eine Rückkehr. Die Suche nach sinnvoller Beschäftigung für das weitere Berufsleben kann dann sehr schwierig sein, und verläuft nicht immer so erfolgreich wie bei Christian Mikolajzcak, der heute als Feuerwehrmann arbeitet.

Der Film von Mehdi Benhadj-Djilali ist authentisch und dabei stellenweise sehr lustig. Wem beispielsweise „Tom meets Zizou“ über die Karriere von Thomas Broich gefallen hat, der wird auch „Zweikämpfer“ mögen.

Die Erstellung der DVD zu Zweikämpfer wurde per Crowdfunding finanziert und kann inzwischen auf Amazon gekauft werden.

Einen guten Überblick über das Berufsbild Fußballspieler vermittelt „Traumberuf Fußballprofi. Der harte Weg vom Bolzplatz in die Bundesliga“. Jörg Runde und Thomas Tamberg beleuchten den Profifußball aus sämtlichen Lagen.

Talentsichtung, Zusammenarbeit mit den Schulen, Persönlichkeitsentwicklung, Einfluss des Umfelds, Gründe fürs Aufhören – alleine bei der Betrachtung des Nachwuchsfußballs zeigt sich, wie umfassend „Traumberuf Fußballprofi“ geschrieben ist.

Fußballprofi, Tamberg, Runde, Sportbuch, Buch, Fußballbuch
Copyright: Wiley-VCH

Meine favorisierten Kapitel schildern die Jagd der Spielervermittler nach neuen Kunden, beleuchten die Praktiken von Spielerberatern und zeigen, wie unterschiedlich die Zeit nach der Karriere verlaufen kann. Außerdem nennen Runde und Tamberg Zahlen und Namen. Namen von guten Beratern. Zahlen bezüglich der Verdienstmöglichkeiten in den oberen vier Ligen Deutschlands. Alleine deswegen gehört das Buch in die Hände eines jeden Spielers aus den Nachwuchsleistungszentren. Und auch der interessierte Zuschauer wird schwerlich ein umfassenderes Buch zu sämtlichen Aspekten des Fußballs als Beruf finden.

Traumberuf Fußballprofi bei Amazon bestellen.

 

 

Alle in diesem Post vorgestellten Bücher:

Engel, Ursula und Bernd Ulrich: Mama, Papa, ich werd‘ Fußballprofi. Rowohlt 2014, 224 Seiten.

Heinze, Timo: Nachspielzeit. Eine unvollendete Fußballkarriere. Rowohlt 2012, 240 Seiten.

Runde, Jörg und Thomas Tamberg: Traumberuf Fußballprofi. Der harte Weg vom Bolzplatz in die Bundesliga. Wiley-VCH 2014 (2. Auflage), 315 Seiten.

Talente von heute – Arbeitslose von morgen? Interview mit Ulf Baranowsky

Bei meiner Lektüre zu Fußball als Beruf habe ich mich gefragt, ob der Beruf des Lizenzspielers heute größeren Umwälzungen als je zuvor ausgesetzt ist. Ulf Baranowksy, Geschäftsführer der Spielergewerkschaft VDV, hat mir dazu ein paar Fragen beantwortet.

VDV-Geschäftsführer Ulf Baranowsky. Copyright: VDV.
Copyright: VDV

Bei derzeit 56 Nachwuchsleistungszentren kommen jährlich geschätzt etwa 500 junge Spieler neu auf den Markt. Dies sorgt für einen großen Verdrängungswettbewerb unter den Spielern. Sind die Talente von heute die Arbeitslosen von übermorgen?

Aufgrund der begrenzten Zahl der Arbeitsplätze schaffen nur ganz wenige Talente aus den Nachwuchsleistungszentren den Sprung in den Profifußball. Darum gilt es, großen Wert auf die parallele schulische und berufliche Bildung zu legen. Die VDV bietet hier mit Partnern maßgeschneiderte Lösungen an. So können junge Profis beispielsweise an Fernhochschulen studieren und ihre Klausuren an spielfreien Tagen unter Aufsicht in der VDV-Geschäftsstelle schreiben. Zudem beschäftigt die VDV einen erfahrenen Laufbahncoach, der als Lotse und Ideengeber für die Spieler auf dem Weg in die nachfußballerische Berufslaufbahn fungiert.

– Welche Rolle nimmt die VDV bei der Vorbereitung der Spieler auf das Leben nach dem Fußball ein?

In Zusammenarbeit mit dem DFB und der LIGA führen wir als Spielergewerkschaft zahlreiche FIT FOR JOB-Schulungen in den Nachwuchsleistungszentren und bei Verbandsauswahlmannschaften durch. Dabei gibt es für Talente und Eltern Tipps und Warnhinweise zu Themen wie Spielervermittlerreglement, Vorsorge, Absicherung, Arbeitsrecht, Gesundheitsschutz, Wettbewerbsintegrität und auch zur Verzahnung von schulischer und beruflicher Bildung mit dem Profifußball. Zudem beraten wir die Spieler auch individuell bei Fragen und Problemen. Schon junge Spieler ab 15 Jahren können bei der VDV-Mitglied werden. Jugendliche sind von der Beitragspflicht befreit.

– Wie stehen Sie zur Streichung der zweiten Mannschaften bei vielen Proficlubs?

Die VDV hat den LIGA-Beschluss, wonach die Lizenzklubs ab Juli 2014 keine Reserveteams im Seniorenbereich mehr melden müssen, mehrfach kritisiert. Denn selbst gestandene Nationalspieler wie Philipp Lahm, Mats Hummels, Thomas Müller oder Bastian Schweinsteiger haben zu Beginn ihrer Profilaufbahn wertvolle Spielpraxis im Reserveteam gesammelt und damit die körperliche und spielerische Basis für ihren späteren Aufstieg in die Weltklasse gelegt. Preiswerter als durch die eigene Ausbildung kann ein Klub doch gar nicht an gute Spieler kommen! Nicht nur als Talentschmiede werden die Reserveteams also dringend weiter gebraucht; sie sind ebenfalls zwingend notwendig, um gestandenen Profis nach Verletzungen die Chance zu geben, wieder Spielpraxis zu sammeln und anschließend das Profiteam zu verstärken. Ebenso werden gute Spieler aus der Reservemannschaft immer dann benötigt, wenn durch Verletzungen und Erkrankungen die Zahl der einsatzfähigen Profis in der Lizenzmannschaft stark dezimiert wird. Ein tatsächlicher Verzicht auf die Reserveteams kann für die Klubs also ganz schnell zum ein klassischen Eigentor werden.

– Schon in der Regionalliga wird in einigen Vereinen unter professionellen Bedingungen gearbeitet. In welcher Liga beginnt für Sie der Profifußball und damit die Arbeit der VDV?

Bei einem der führenden deutschen Klubs beginnen unsere FIT FOR JOB-Schulungen sogar schon bei den Eltern von E-Jugendlichen. Stimmrecht bei der VDV-Spielerversammlung besitzen die Delegierten der Teams aus der Bundesliga, 2. Bundesliga, 3. Liga und aus den Regionalligen. Es gibt aber auch VDV-Mitglieder, die unterhalb der Regionalliga spielen und ebenfalls auf das Serviceangebot der Spielergewerkschaft zugreifen können.

– Auf Buchsport geht es ja vornehmlich um Bücher, deshalb kann ich Sie nicht ohne zwei Fragen dazu entlassen. Was sind Ihre Lieblingsbücher – über Fußball und ganz allgemein?

Ich bin sicherlich ein Sach- und Lehrbuchtyp, schaue aber trotzdem gerne auch immer mal wieder in Klassiker wie beispielsweise Goethes Faust.

– Gibt es ein Buch, dass Sie Jugendspielern auf dem Weg zum ersten Vertrag oder Jungprofis empfehlen können?

Jungen Spielern, die mit einem Job als Berufsfußballer liebäugeln, empfehle ich immer das Handout unserer VDV-Schulungsreihe FIT FOR JOB mit konkreten Tipps und Warnhinweisen zu allen relevanten Bereichen. Lesenswert finde ich zudem unter anderem das Buch „Traumberuf Fußballprofi“ aus der Feder der Sportjournalisten Jörg Runde und Thomas Tamberg.

Das Buch von Runde/Tamberg bespreche ich auch im großen Text über Fußball als Karrierechance.

Natürlich kann das Buch bei Amazon gekauft werden.

Meine Olympiade

Ich freue mich sehr auf die Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro, und das hat ganz wesentlich mit Ilija Trojanow und seinem neuen Buch zu tun. Für „Meine Olympiade. Ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen“ hat der bekannte Autor den Sportler in sich wiederentdeckt und sämtliche Einzelsportarten von Olympia 2012 trainiert. Dabei ist ein Buch entstanden, das auf wunderbare Art zeigt, was hinter der olympischen Gelddruckmaschine oft verborgen ist. Die reine Freude an der Bewegung. An den unterschiedlichsten Arten von Bewegung. Jede Sportart hat ihren Reiz, und Trojanow bringt sie uns alle näher.

Trojanow, Olympia, Meine Olympiade,
Copyright: Fischer

Die Schilderung eines Triathlons saugt den Leser direkt ins Buch mit detaillierten Beschreibungen der Wettkampfphasen und des Umfelds, sowie Trojanows selbstironischer Note. Anschließend erklärt er, dass er durch intensiven Fernsehkonsum der Spiele in London animiert wurde, wieder selbst aktiv zu werden. Als Ziel setzte er sich, in jeder messbaren Disziplin halb so gut zu sein, wie der Olympiasieger. Nach einem halben Jahr Grundlagentraining wagte er sich dann an 23 Sportarten und insgesamt 80 Disziplinen. Aus logistischen Gründen trainierte er stets mehrere Sportarten parallel, technische und körperlich anstrengende Sportarten gut gemischt. Und er machte aus Schwierigkeiten das beste und nutzte beispielsweise häufiges Kentern beim Kajakfahren für Schwimmtraining im Freiwasser. Einige Sportarten trainierte er in Ländern, die diesen besonders verbunden sind, Judo in Japan oder Ringen im Iran.

Trojanow erzählt nicht chronologisch, sondern hat die Sportarten kategorisiert, etwa „Im Wasser“, „Auf dem Wasser“, „Kleiner Ball, Großer Ball, Federball“, „Leises Schießen, Lautes Schießen, Tontaubenschießen“. Zudem schweift er öfter in die Frühgeschichte des Sports allgemein oder einzelner Disziplinen ab. So lernen wir beispielsweise, dass die Kampfrichter in der Antike Fehlversuche beim Werfen und Springen mit einem Stockschlag bestraften, oder dass der älteste Medaillengewinner der olympischen Geschichte ein 72 jähriger Schwede war.

Mir hat sehr gut gefallen, dass im Buch jede Sportart ernst genommen, und ihr trotzdem mit Humor begegnet wird. Vom 3000 Meter Hindernislauf etwa schreibt Trojanow, er sei „eine kenianische Disziplin, die irrtümlicherweise in Irland erfunden wurde“. Und für das Imageproblem von Tischtennis findet er herrliches Bild: „Unvorstellbar, dass in einem Hollywoodfilm der Held zur Bestätigung seiner Männlichkeit bei einem Ping-Pong-Workout gezeigt wird.“

Auf die Olympischen Spiele in Rio freue ich mich auch deshalb, weil „Meine Olympiade“ mir die Dimensionen der Leistungen noch einmal klarer gemacht hat. Im Dreisprung etwa springen die besten Männer um die 18 Meter weit. Damit ist jeder der drei Sprünge sechs Meter weit, „eine Länge, die man abschreiten sollte, um die enorme Leistung zu würdigen“.

Von mir bekommt „Meine Olympiade“ eine klare Leseempfehlung. Oder auch Hörempfehlung. Ich habe nämlich – zweimal – das leicht gekürzte Hörbuch gehört. Das ist vom Autor selbst gelesen und dauert etwa siebeneinhalb Stunden.

Trojanow, Ilija: Meine Olympiade. Ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen. Fischer, 336 Seiten.

Meine Olympiade bei Amazon kaufen.

Meine Olympiade als Hörbuch kaufen.