Wahrscheinlich hatte ich zu hohe Erwartungen. Ich sah Schweinsteiger auf dem Titel, nach dem verlorenen „Finale dahoam“. Beim Reinblättern landete ich bei einer Geschichte über Rolf Töpperwien, den ich als Person immer schon skurril-interessant fand. Und mir war noch Tobias Eschers Satz im Ohr, dass er Verlierer interessanter findet als Gewinner. Deshalb habe ich „Das Spiel ist aus. Geschichten über das Verlieren“ von Holger Gertz beim Verlag angefragt.
Wie fast immer, wenn man sehr hohe Erwartungen hat, können diese fast nur enttäuscht werden. Holger Gertz ist Journalist für die Süddeutsche Zeitung und schreibt tolle Reportagen. Auch in „Das Spiel ist aus“ finden sich sehr schöne Geschichten. Zum Beispiel die über Töpperwien, den aus der Zeit gefallenen ZDF-Mann, die gleichzeitig eine Anklage gegen den Sender und seine zunehmende Verkumpelung mit den Sportlern ist.
Sehr bewegend fand ich die Geschichte zweier kanadischer Sportler, die am Vorabend des Olympia-Attentates von München 1972 mit einer Gruppe erst spätabends ins olympische Dorf zurückkehrten, deshalb über den Zaun steigen mussten und dabei wahrscheinlich den palästinensischen Attentätern begegneten, die sich ebenfalls Zutritt zum Dorf verschafften. Eine Sportlerin fühlt sich deshalb noch heute mitschuldig am Tod der israelischen Sportler. Ihr Teamkollege hat die Ereignisse fast unmittelbar verdrängt. Gertz fängt die Stimmung der beiden sehr gefühlvoll ein. Das gelingt ihm auch bei der Erzählung um Nancy Glickman, die 2015 zu den European Maccabi Games nach Berlin reist. In die Stadt, in der ihrem Vater bei den olympischen Spielen 1936 der größte Erfolg seiner Laufbahn als Sprinter verwehrt wurde. Marty Glickman war als Läufer für das 4 x 100 m-Finale vorgesehen. Jesse Owens sollte und wollte angesichts seiner bereits drei Goldmedaillen den Platz im Quartett räumen. Eine Niederlage gegen den jüdischen Sprinter Glickman wollten die amerikanischen Teamverantwortlichen dann aber offenbar den nationalsozialistischen Gastgebern nicht zumuten und strichen ihn und einen weiteren jüdischen Läufer am Tag vor dem Finale aus dem schließlich siegreichen Team.
Ganz toll hat mir auch das Kapitel gefallen, das zur Fußball-WM 2006 in Celle spielt. Die niedersächsische Stadt beheimatete in der Zeit den WM-Neuling Angola. Gertz fängt anschaulich die Stimmung in der Stadt ein, die das afrikanische Team gewissermaßen adoptiert. Er erzählt, wie sich die Celler um die Beherbergung einer Mannschaft bemüht hatten und zeigt, wie sie die Angolaner unterstützt haben. Bei mir hat die Geschichte sofort die Frage aufgeworfen, wie das wohl in Zweiflingen, Bad Kissingen oder Niederkassel war. Kann da nicht mal jemand nachfragen?
Die Geschichte der angolanischen Mannschaft bringt für mich aber auch das große Problem des Buches von Holger Gertz auf den Punkt, denn ich kann darin beim besten Willen keine Verlierer erkennen. Klar, Angola muss nach der Vorrunde ohne Sieg abreisen. Die Mannschaft hat aber als WM-Neuling auch nur eines von drei Spielen verloren. Für ein Land, dass erst kurz vorher einen dreißig Jahre dauernden Bürgerkrieg beenden konnte, ist schon die Teilnahme mehr als respektabel.
Auch in anderen Kapiteln ist meiner Meinung nach der Bezug zu Niederlagen oder Verlierern stark konstruiert. Wenn etwa Marcel Reif zu einem Kommentatorentraining nach Nordkorea begleitet wird, ist die Bevölkerung des kommunistischen Staates sicherlich arm dran. Ihre Situation lässt sich aber nicht auf zehn Seiten erzählen, die zudem Reif in den Mittelpunkt rücken. Auch die Beschreibung des Sachsenhauses bei den Olympischen Winterspielen von Turin als emanzipatorische Abgrenzung zum traditionellen Deutschlandhaus liest sich zwar gut und etwas schnurrig, lässt mich aber keinen Verlierer erkennen.
Andere Geschichten sind schlicht veraltet. Gertz hat Lothar Matthäus zu Beginn seiner Tätigkeit bei Partizan Belgrad besucht. Das war in 2003. In der anschließenden Dekade hat sich bei Matthäus zu viel getan, als dass die Erzählung noch Relevanz hätte. Gleiches gilt für Borussia Dortmund, die 1997 zwar kurz vor dem Exodus standen, knapp 20 Jahre und drei Meistertitel später aber längst wieder zur wirtschaftlichen Elite des deutschen Fußballs zählen. Auch der Comeback-Kampf des 43-jährigen Henry Maske müsste heute anders erzählt, vielleicht besser eingebettet werden.
Da liegt vielleicht das Grundproblem des Buches. Gertz hat nämlich nicht neue Geschichten geschrieben, sondern bis auf Einleitung, ein kurzes Zwischenkapitel und den Schluss alte Reportagen aus der Süddeutschen Zeitung verwendet. Das ist natürlich legitim und einige der Geschichten haben es auf jeden Fall verdient, noch einmal gelesen zu werden. Ich hatte das einfach nicht erwartet und war deshalb etwas enttäuscht.
Insgesamt fehlt mir in „Das Spiel ist aus“ der rote Faden. Das Thema des Buches verspricht tolle Geschichten. Etwa über Raymond Poulidor, den ewigen Tour de France Zweiten. Oder die Unterschiede zwischen den Triple-Zweiten aus Leverkusen 2001 und München 2011. Oder Dirk Nowitzki 2006. Oder auch etwas zu Bayer Uerdingen, die als Verlierer der Umstrukturierungen der Sportförderung des Bayer Konzerns heute als KFC Uerdingen in der Oberliga spielen. Und bestimmt fänden sich noch viele weitere. So bleibt es ein Buch der verpassten Chancen. Einen Blick lohnt es dennoch.
Gertz, Holger: Das Spiel ist aus. Geschichten über das Verlieren. DVA 2016. 240 Seiten.
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Das Buch wurde mir auf Anfrage vom Verlag zur Verfügung gestellt.